Stadtmitte
: Happy Birthday, Karl Marx!

■ Unfromme Wünsche zum 175. Geburtstag am kommenden Mittwoch

Die runden Jahrestage sind die letzte Chance einstiger Größen, die zum zweiten Mal gestorben sind, weil sie keinen mehr stören. Stört Karl Marx keinen mehr?

Vor 25 Jahren, 1968, als die Zahl viel runder war, riß eine rasch wachsende „Kapital“-Lesebewegung Hunderte, ja Tausende mit, doch der Jahrestag spielte keine sonderliche Rolle.

An seinem jetzigen Geburtstag wissen wir: Die ostdeutsche Restauration, der die Revolution vom Herbst 1989 den Weg bereitet hat, ist unterm Abspielen der Symphonie vom schönen neuen Kapitalismus von dessen Krise eingeholt worden, während anderen zum Kapitalismus befreite Länder im Bürgerkrieg untergehen, wieder andere in Verelendung versinken. Nur ein einziges Land auf dieser ganzen kapitalistischen Welt hat Konkunktur, nämlich China mit seiner „sozialistischen Marktwirtschaft“.

Dem öffentlichen Meinungswesen aber dämmert, daß Marx nicht verschwindet, nachdem die Staaten verschwunden sind, die sich auf den Marxismus-Leninismus beriefen. Einigen dämmert sogar, daß die Entfernung des byzantinischen Sarkophages eine neue Marx-Rezeption freisetzen mag. Sollen wir Marx wünschen, daß er vom Ismus befreit wird, der an seinem Namen wie ein Bleigewicht hängt? Ach, was für ein frommer Wunsch! Die Marxismen werden wiedererstehen, solange der Kapitalismus besteht, den Marx analysiert hat. Nein, Marx braucht die Jubiläen nicht, um (momentan) dem Vergessen entrissen zu werden. Sondern wir, die Nachgeborenen, brauchen sie zur Verständigung.

Marx geht nicht heil hervor aus dem Zusammenbruch des Marxismus-Leninismus. Nicht nur, weil sein Name für viele, die im zusammengebrochenen System gelebt haben, zum Namen des Unheils geworden ist. Sondern vor allem, weil bestimmte Defizite bei Marx sich als unheilvoll erwiesen haben.

Wenn wir Marx wünschen, daß er den Schatten Stalins und das Stasi-Netz der Spinne Mielke loswird, so geht das keinesfalls ohne seine Befreiung vom subalternen Respekt: Wünschen wir ihm also, daß unbefangen-kritisch mit ihm umgegangen wird, daß Defizite erkannt und nachgearbeitet werden. Er wußte natürlich nichts vom transnationalen Kapitalismus und seiner hochtechnologischen Produktionsweise, ohne deren Analyse wir Heutigen nichts begreifen – aber wo, wenn nicht bei Marx, lernt man darüber nachzudenken, was Produktionsweise heißt und wie Kapitalismus funktioniert, was es für eine Marktwirtschaft bedeutet, wenn die Automation den Anteil lebendiger Arbeit am Wert der Waren minimiert.

Natürlich ahnte Marx nichts vom befehlsadministrativen Sozialismus im Osten, obwohl er zweifellos dessen Konstruktion, von allen anderen Skandalen abgesehen, als Entwicklungsbarriere begriffen haben würde – aber wie, wenn nicht von den Produktionsverhältnissen her und der Schranke, die sie für die Produktivkraftentwicklung darstellten, sollen jene Gesellschaften und ihr Untergang gedacht werden? Vor allem ist Marxens blinder Fleck in Sachen Zivilgesellschaft wegzuarbeiten. Man kann ihm schlecht vorwerfen, daß er sein Denken nicht an Gramscis „Gefängnisheften“, die um diese Frage kreisten, gebildet hat. Unerträglich ist, wenn heutige Marxisten das nicht nachholen.

Es gilt, die absolutistische Grammatik, die Marx und die meisten Marxismen heimsuchte, wegzuarbeiten. Wird der Marxismus in der Zivilgesellschaft ankommen? Oder werden, nachdem in einer Mischung aus Unwissenheit, Wut und Nostalgie die Filter der Wissenschaft herausgeschraubt worden sind, neue Vulgärmarxismen aus dem Boden schießen? Wir wollen es Marx nicht wünschen. Wolfgang Fritz Haug

Der Autor ist Professor für Philosophie an der FU.