Mit dem Rücken zur Wand

Ohne den Luxus der Ruhe: Whitney-Biennale in New York  ■ Von Elizabeth Hess

Die Biennale des Whitney Museums in New York gilt als wichtigste Überblicksschau aktueller amerikanischer Kunst. Von mehreren kontroversen Beiträgen in der Wochenzeitung Village Voice übernehmen wir den von Elizabeth Hess. Wir danken für die Genehmigung zum Nachdruck.taz

Ich kann mit Vergnügen mitteilen, daß die Whitney-Biennale dieses Jahres lebt. Es ist keine brillante Ausstellung, aber sie legt Ehrgeiz an den Tag und bezieht tatsächlich Position zu den entscheidenden Vorgängen in der heutigen Kunst. Die Organisation der Biennale dürfte die undankbarste Aufgabe sein, die die Kunstwelt zu vergeben hat, aber die Kuratorin Elizabeth Sussman – in Zusammenarbeit mit den anderen Whitney-Kuratoren Thelma Goldin, John E. Hanhardt und Lisa Philips – hat eine Ausstellung zusammengestellt, die sich konkreten Themen stellt. Die Arbeiten sind von ungleichmäßiger Qualität, aber es gibt genug hervorragende Objekte, um einen Besuch der Ausstellung lohnend zu machen.

Die Biennale verteilt sich über das gesamte Museum; die Kunstwerke sind nach Themen organisiert statt nach Generationen – eine neuere Methode. Die Räume wirken überfüllt – nicht weil es zu viele Einzelstücke gibt, sondern weil sie zu häufig nicht zusammenpassen. Der zweite Stock bietet eine Folge von Räumen, in denen auf fast jeder Fläche zwei Künstler nebeneinander vertreten sind. Kiki Smith und Byron Kim – am Eingang der Etage – sind eigenartige Weggefährten. Smith' drei Ausstellungsstücke, psychologisch befrachtete Erforschungen der weiblichen Form, wirken gedrängt und in eine Ecke geschoben. Kims Arbeiten – eine Reihe farbiger Bäuche, die an der Wand aufgereiht sind, und ein Gitter aus verschiedenartigen Fleischtönen – werfen Fragen der Rasse, Identität und Gleichheit auf. Aber die Buchstäblichkeit von Kims Projekt reibt sich mit der (bewußt) ätherischen Qualität von Smith' Arbeit. Sie passen nicht zusammen.

Ida Applebroog und Nan Goldin jedoch könnten das Paar des Jahrzehnts sein. Zwischen ihnen liegt eine ganze Generation, aber ihre Gemälde und Fotografien spiegeln Versionen der gleichen bedrohlichen Realitäten. Applebroogs Leinwände springen von den Wänden in den aktiven Raum, als verbiete die ihnen innewohnende Dringlichkeit den Luxus der Ruhe. Sie hat ein anscheinend unkontrolliertes Gewirr von Gemälden geschaffen, die auf dem Boden stehen, liegen oder fallen; gelegentlich lehnen sie an der Wand, an der Gemälde früher zu hängen pflegten.

Das überall in die Augen springende Thema lautet Kindesmißbrauch. Ein Mann in einem Anzug hält ein Kind (seine Tochter?) am Arm in der Luft, ihre Beine sind gespreizt und enthüllen die Unterwäsche; zweimal erscheint ein Baby mit einem Stein, der an seinen (vielleicht ihren?) Körper gebunden ist. Zusammengenommen lesen sich die Gemälde wie ein anonymes Epos. Applebroog verbindet Kindesmißbrauch mit den Mythen, mit denen wir alle aufgewachsen sind, wie Hänsel und Gretel der Brüder Grimm; sie erscheinen auf einem Gemälde, das die böse Hexe zeigt. In der Verbindung des Kindesmißbrauchs mit dem medizinischen Mißbrauch von Frauen zeigt ihr aufwühlendstes Bild eine Patientin, die an einen Stuhl gefesselt ist und vielleicht auf eine Schocktherapie wartet. Kein Bedarf: Sie ist bereits entmündigt.

Applebroogs Arbeiten sind umgeben von Goldins intimen Porträts ihrer Generation, einer Schar zumeist homosexueller Männer und Lesben, die durch verschiedene Länder reisen, um sich gegenseitig in Schlafzimmer und Leben zu besuchen. Wenn die Betten in Goldins Arbeit einstmals immer mit Sex zu tun hatten, bezeichnen sie hier auch die Krankheit. Einige dieser Gestalten könnten Applebroogs mißbrauchte Kinder sein, die erwachsen wurden, um zu entdecken, daß niemand glücklich lebt bis zu seinem Ende.

Ein sexy Porträt von David Wojnarowicz verankert alle Gesichter auf Goldins Wand bewußt in der AIDS-Krise. Aber Goldins Fotografien führen dazu, daß wir Formen der Intimität entdecken, die der Epidemie zum Trotz blühen. Im Gegensatz zu verbreiteten Gerüchten ist Sex auch im Zeitalter von AIDS lebendig. Goldins Siobhan in My Tub, Berlin liefert dafür den hinlänglichen Beweis.

Ich bin recht froh, berichten zu können, daß Feministinnen in diesem Jahr den Vogel abschießen. Maureen Connor und Shu Lea Cheang zeigen Videoinstallationen, die man nicht versäumen sollte. Auf der dritten Etage findet sich eine ganze feministische Abteilung, wo man Nancy Spero, Sue Williams und Cindy Sherman in einer kollektiven Manie besichtigen kann. Auch hier findet eine Mischung zwischen den Generationen statt, die wesentlich ist für das, was zur Zeit in der Kunstwelt vorgeht. Spero verteilt auf zwei großen Wänden einen säuberlich schablonierten Text mit der Geschichte der ersten Frau, die von den Nazis in der Sowjetunion ermordet wurde. Ein komplexes und verlorengegangenes Stück Geschichte, das die Künstlerin voller Leidenschaft rekonstruiert. Spero beschwört auch den Geist von Anna Mendieta und ihren noch immer ungelösten Tod und verbindet dies mit einer Huldigung an die junge Künstlerin. (Carl Andre, ihr Mann, wurde des Mordes angeklagt; und trotz seines Freispruchs bleibt Bitterkeit zurück.) Zwei blutige Handabdrücke ziehen sich eine Wand hinab – eine Anspielung auf eine ihrer Performances und ihren Tod.

Vier der schwierigsten Fotografien Shermans sind in diese Biennale aufgenommen. Obwohl sie im Hintergrund einer Etage fast versteckt sind, wirken sie verblüffend und verstörend, wo immer sie hängen. Shermans schreckliches Paar, Mr. Penis und Mrs. Vagina, verkörpern auf einen Blick Jahrzehnte des brutalen sexuellen Antagonismus. Sie signalisiert das Ende des uns vertrauten Sex, ohne daß auch nur ein Hauch Optimismus bleibt.

Williams ist sarkastischer. Sie hat unverwechselbar eine Pfütze Erbrochenes auf dem Boden hinterlassen; das wirkt wie ein kindlicher Scherzartikel auf dem Wohnzimmerteppich. In das Whitney zu kommen und auf den Boden zu kotzen, ist nicht nur ein Schlag ins Gesicht der Institution. Die Künstlerin verbindet den Unrat unmittelbar mit einer Aufzählung von Verbrechen gegen Frauen. Ihre Gemälde wirken alle wie neue und unbearbeitete Zeichnungen. Auf ihnen entläßt sie einige ihrer üblichen Themen – Vergewaltigung, Inzest, Gewalt – auf die Leinwand, aber die Wandzeichnungen handeln mehr von Eßstörungen, von Fett- und Magersucht. Der bekotzte Teppich, eine der kühnsten Arbeiten der ganzen Biennale, wirkt wie direkt aus der Wand bespuckt.

Lorna Simpsons Installation zu den Unruhen von Los Angeles gehört zu den bewegendsten und am wenigsten didaktischen Arbeiten, die sich von dem Ausbruch der Gewalt inspirieren ließen. Eine Wand mit einem säuberlichen Arrangement von Trompetenmundstücken steht einem einzelnen, großen Fotoporträt schwarzer Lippen gegenüber. Ein winziger Zeitungshalter an einer ganzen Wand dazwischen enthält Bürgermeister Bradleys Kommentare unmittelbar nach den Unruhen, als ihn ein Reporter fragte, ob er als Schwarzer in Los Angeles nicht Angst haben müßte, wenn er nicht der Bürgermeister wäre. „Nein, ich hätte keine Angst“, antwortete er. „Ich wäre wütend.“

Die Musikinstrumente, deren Körper verborgen bleiben, stehen für eine Masse von Afroamerikanern; wir können ihren Atem tatsächlich durch die Wand spüren. Simpson weigert sich vielleicht, den Körper als Ganzes zu zeigen – nicht so Charles Ray. „Family Romance“ ist eine verstörende oder verstörte kleine Gruppe fleischiger Weißer mit nackten Hintern; sie halten einander bei den Händen, als hätten sie Angst, unter den Besuchern des Whitney verloren zu gehen. Es ist ein angsteinflößendes Porträt. Ray nähert sich der Unsicherheit und dem Konformitätsdruck in der Familie des Atomzeitalters, indem er Mama, Papa, Dick und Jane alle in gleicher Größe gestaltet. Die Tochter, etwa vierjährig, wirkt bereits ein bißchen zu plump. Sie ist auf dem besten Wege in eines von Williams' Tableaux.

Die oberste Etage ist die schwächste, aber Pepon Osorios theatralische und anrührende Installation zum Tod der hispanischen Stereotype sollte man nicht versäumen. Es gibt auch einen Leseraum mit den neuesten theoretischen Werken, die eine ganze Wand einnehmen. Dies ist eine Neuheit in der Praxis der Biennale und lädt implizit zu kritischen Kommentaren über Kunst und Kultur ein, die im Moment unauflösbar mit Theorien über Rassismus und Feminismus verknüpft sind. Das einzige Problem mit dem Leseraum besteht darin, daß vom Biennale-Katalog mehr Exemplare ausliegen als von jedem anderen Buch, wodurch der rote Band mehr Gewicht erhält, als er verdient.

Es läßt sich nicht übersehen, daß der Umschlag des Katalogs, der Kiki Smith und David Wojnarowicz zugeschrieben wird, ein Detail einer Fotografie wiedergibt, die sie einige Jahre vor Wojnarowiczs Tod schufen. Um die Gemeinschaftsarbeit mit ihm hat Smith ihren Beitrag gebaut, wobei sie Wojnarowicz ihrem eigenen Kunstwerk einschreibt. Obwohl er nicht aufgeführt ist, hat das Whitney auf ähnliche Weise Wojnarowicz in seine Ausstellung aufgenommen, indem er den Platz auf dem Katalogumschlag bekam. Es ist ein kümmerliches Bild und eine kümmerliche Methode. Man muß sich fragen, ob Wojnarowicz dem zugestimmt hätte. Man fragt sich auch, warum Sussman sich nicht dazu entschloß, einen echten Wojnarowicz in eine Ausstellung aufzunehmen, in der er ständig auftaucht wie ein Traum.

Wenn das Whitney-Museum für sozial engagierte Kunst und sozial engagierte Kritik einstehen will, dann muß es dieses Ziel in seine normale Kuratoriumspraxis einbeziehen. Wir müssen einige dieser Künstler im nächsten Jahrzehnt breiter dargestellt erleben. Die Ausstellung wird ein lebendiges Publikum in das Museum zurückbringen, aber die Aufgabe der Direktorin liegt darin, es auch zu halten.

Aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning