Das Sehen sehen

■ Dieter Hackers „Ödipus“-Inszenierung beim Berliner Theatertreffen

Nach den forcierten Albernheiten der Herren Haußman und Castorf, die das Berliner Theatertreffen eröffneten, setzte Dieter Hackers Bochumer „Ödipus“-Inszenierung einen Kontrapunkt, der zeigte, daß gutes Theater keine Frage der lärmenden „Turbulenz“ (Leander „shootingstar“ Haußmann), sondern der Konzentration ist: Hacker läßt die Tragödie des Sophokles von einem einzigen Schauspieler erleben und durchdringen. Die Inszenierung bewegt sich auf der Grenze zwischen Repräsentation und Imagination: die antike Tragödie als Selbstgespräch eines Menschen des 20. Jahrhunderts, die Fremdheit nicht zukleisternd, sondern vorführend – sich an ihr abarbeitend.

Wir sehen das Atelier eines Malers, eine zunächst verhängte Staffelei vor weißem Rundhorizont. Armin Rohde in weiter, farbbespritzter Arbeitskleidung, kahlgeschoren und gedrungen, wirkt seltsam archaisch – ein Bauer. Er liest Hölderlins Sophokles-Übersetzung, Passagen wiederholend, auswendig lernend, er tastet sich in die unzugänglichen Verse hinein und zieht so seine ZuschauerInnen, ZuhörerInnen in die fremde Geschichte. Zwei Sätze wiederholt er, dieses Vorfühlen unterstreichend, immer wieder: „Forschen will ich, bin ich gleich fremd in der Sache, fremder noch im Vorgang. Nun aber komm' ich, ein später Bürger, ich den Bürgern, ruf' euch...“ Dezent und unübersehbar zeigt Hacker, daß eine Theateraufführung immer auch etwas von einer Totenbeschwörung hat: Im Spiel werden die Toten lebendig, in die Gegenwart hinein wird vergangene Zeit evoziert. Auch wenn Rohde vom Lesen ins Spielen gerät, sich für Momente in die Figuren des Stückes verwandelt, bleibt diese Ebene der Totenbeschwörung, der Engführung zweier Zeiten präsent: Das Spiel tut nie so, als sei es reine Gegenwart – das Textbuch ist stets präsent. Immer wieder versichert sich der Schauspieler der Hölderlinverse: Wir folgen einem Kunstvorgang, keiner Kopie von „wirklichem Leben“. Das hat, bei aller Strenge, komödiantische Momente; wenn Rohde Spielhaltungen und Tonfälle ausprobiert, etwa als er die Rede des Ödipus an den Seher Teiresias mehrmals versucht, bis er eine angemessene Spielweise gefunden hat.

Armin Rohdes Stimme knüpft sich an alle Gestalten der Tragödie. Obwohl er sich mit enormer Genauigkeit und Schärfe den Sophokles-Figuren nähert, das Versmaß füllt, statt nur leer zu deklamieren, ist sein Spiel nicht identifikatorisch: Die Trennung zwischen Rolle und Spieler bleibt präsent wie im antiken Theater, in dem zwei oder drei Spieler alle Rollen eines Stückes vorzuführen hatten. Rohdes Partner sind Gemälde des Malers und Regisseurs Dieter Hacker: Vor ihnen und gegen sie, sie wie einen Echoraum benutzend, agiert er. Sein anderer, vielleicht wichtigerer Partner ist das Licht: Dieter Hacker setzt die Tragödie um Blindheit und Verkennung in prägnant einfache Bilder um. Als Rohde sich in den blinden Seher Teiresias verwandelt, schaut er in einen Scheinwerfer, hält den Arm gegen das blendende Licht – und der Schatten bedeckt seine Augenpartie, sein Augenlicht so durchstreichend. Als Ödipus zu Beginn nach dem Schuldigen für die Pest, den Mörder des Lajos, sucht, benutzt er den Scheinwerfer als Sucher, am Rundhorizont hängende Helme anleuchtend. Und als er am Ende weiß, daß er selbst des Lajos, seines Vaters Mörder ist, also zum ersten Mal sein Schicksal erkennt – sehend wird –, ist der Scheinwerfer ins Publikum gerichtet: Wir hören die Stimmen und sehen, geblendet sozusagen, das eigene Sehen: Wahrnehmung verliert ihre Selbstverständlichkeit und gewinnt ihr Bedrohliches, Gefährliches zurück.

Dieter Hackers hellwache, hochkonzentrierte Inszenierung kommt ohne kulinarische und „unterhaltsame“ Mätzchen aus. Sie ist, in ihrer Sprödheit, unendlich sinnlicher und spannender als das aufgeregte Witzeln von Haußmann & Company. Kein Zufall, daß diese Arbeit am Schauspielhaus Bochum entstand, das seit Steckels Intendanz solch spröde-trockenen Stil energisch pflegt: Theater als Schule der Wahrnehmung und Konzentration, wie es auf diesem Niveau sonst wohl nur noch an den Berliner Schaubühne betrieben wird. Kein Zufall allerdings auch, daß diese außergewöhnliche Arbeit von einem Regisseur stammt, der von außen zum Theater kam: Hacker ist Maler, nur gelegentlich hat er für die Schaubühne und das Bochumer Theater Bühnenbilder gemacht (zuletzt für Steckels „Timon aus Athen“). Seine „Ödipus“- Inszenierung ist die erste Regiearbeit des Fünfzigjährigen, ein Beweis für die These, daß die entscheidenden Kunstwerke im Abseits entstehen. Wenn die gefeierten Clowns Haußmann und Castorf das Theater auf Game-Show- Niveau bringen, betreibt der Außenseiter Hacker mit seinem Theater eine Sabotage der flottierenden Unterhaltungsindustrie. Peter Laudenbach

Sophokles: „Ödipus“. In der Übersetzung von Friedrich Hölderlin. Regie, Bühne, Kostüme: Dieter Hacker. Mit Armin Rohde. Schauspielhaus Bochum