Jüdin, Antifaschistin, Literaturagentin

Die Erinnerungen der Ruth Liepman  ■ Von Wilfried Weinke

„Wir freuen uns ganz besonders, in Frau Liepman eine deutsche Zeugin des unerschrockenen antifaschistischen Widerstandes auch im Namen der Zürcher Bevölkerung zu ehren.“ Im Rathaus Zürich wurden am 27. November 1992 die kantonalen Auszeichnungen für Kulturschaffende überreicht. Die goldene Ehrenmedaille erhielt erstmals überhaupt eine Frau: Ruth Liepman, die Leiterin der gleichnamigen, in Zürich ansässigen Literaturagentur.

Nun hat die in aller Welt bekannte und angesehene Literaturvermittlerin und -entdeckerin selbst ein Buch veröffentlicht. Ihr Buch. Der Titel: „Vielleicht ist Glück nicht nur Zufall“, erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch. Es sind erzählte Erinnerungen, Protokolle zahlreicher Gespräche mit Helge Malchow, dem Cheflektor des Verlages. Man hätte diesen Gesprächen an manchen Stellen mehr Muße gewünscht. Und dennoch nimmt die knappe, freimütige und von jeder Eitelkeit freie Erzählweise der Autorin die Leser dieser Autobiographie gefangen, insbesondere wenn Ruth Liepman von ihren Erlebnissen und unfreiwilligen „Abenteuern“ im Exil in Holland, nach dem Einmarsch der Deutschen und in der Illegalität, berichtet.

Ruth Liepman ist im April 84 Jahre alt geworden. Jahrelang hat sie sich gesträubt, ihre Erinnerungen zu veröffentlichen. Den eigenen Entschluß zu revidieren und dem Drängen vieler nachzugeben, begründet sie sachlich-knapp damit, „daß es nicht mehr viele Zeugen der Generation gibt, die zwei Weltkriege erlebt und ganze Weltreiche untergehen gesehen hat.“

1909 wurde sie als Ruth Lilienstein in Polch in der Eifel geboren. Ihre Eltern waren Juden, ihr Vater versuchte ihr jedoch „die Welt ohne den lieben Gott zu erklären. Aber auch wenn die Religion bei uns keine Rolle spielte, bekannte man sich immer zum Judentum und fühlte sich als Jude.“ Noch vor dem Ersten Weltkrieg zog die Familie nach Hamburg. Wie zahlreiche andere deutsche Juden meldete er sich bei Kriegsbeginn als Freiwilliger.

Die Schulzeit verbrachte Ruth Lilienstein überwiegend in Hamburg. Prägend wurde vor allem die Lichtwarkschule, eine der wenigen Hamburger Reformschulen in der Weimarer Republik. Deren pädagogisches Motto lautete: „Eine Schule, die hungrig macht, aber nicht satt“. Die praktizierte Erziehung zur Selbständigkeit, die Einbeziehung politischer Themen in den Unterricht, Fahrten nach England und dortige Teilnahme an pazifistischen Demonstrationen sind für Rith Liepman unauslöschbare Erinnerungen. Hier lernte sie bleibende Freunde kennen, die spätere Schriftstellerin Ruth Tassoni, den Publizisten Gerhard Lüdtke, beide 1936 Teilnehmer am Spanischen Bürgerkrieg.

Von einem Schulkameraden wurde sie, die sich bisher dem jüdischen Jugendbund „Blau-Weiß“ angeschlossen hatte, für die KPD geworben. Bald arbeitete sie in der Marxistischen Arbeiterschule und in der Agitprop-Abteilung der Partei. Von Willi Bredel stammt der Satz: „Sie kommt zwar aus bürgerlichem Haus, aber sie gehört zu uns.“ Bei der Agitation Dithmarscher Bauern lernte sie die Brüder Bruno und Ernst von Salomon kennen; es war Ernst von Salomon, der ihre Verhaftung in den Razzien nach dem Reichstagsbrand verhinderte.

Nach dem Abitur und einer kurzen Erfahrung als Textilarbeiterin begann sie ihr Jurastudium. Die noch 1933 begonnene Referendarzeit konnte sie nicht mehr beenden. Ihre im Hamburger Staatsarchiv aufbewahrte Personalakte enthält eine Denunziation vom März 1933. Gegen Ruth Lilienstein liefen polizeiliche Ermittlungen. Im Juni 1933 wurde sie aus dem Staatsdienst entlassen. „Ich war eine der ersten, die aus politischen Gründen Berufsverbot erhielt, übrigens zuerst einmal eher als Kommunistin denn als Jüdin.“ 1934 promovierte sie in Hamburg und flüchtete an ihrem 25. Geburtstag nach Holland. Wie richtig diese Entscheidung war, belegt der Steckbrief, der ein halbes Jahr später gegen sie erlassen wurde.

Trotzdem arbeitete sie auch weiterhin für die KPD, übernahm illegale Kurierfahrten nach Deutschland, fuhr zu illegalen Treffs mit Hans Beimler nach Augsburg. „Angst hatte ich bei diesen Auftragsfahrten kaum. Ich war vorsichtig, aber gleichzeitig habe ich daran gezweifelt, daß ich die Zeit überleben würde. Ich dachte, es kommt so, wie es kommt.“ Noch während der Illegalität wurde Ruth Lilienstein aus der KPD ausgeschlossen, sie hatte sich, wie es hieß, „in kleinbürgerlicher Weise außerhalb der Reihen der Partei gestellt“.

Durch Heirat wurde sie Schweizerin, als Ruth Stock arbeitete sie nach der Okkupation Hollands durch deutsche Truppen als Mitarbeiterin des Schweizer Konsuls in Amsterdam. Ihre juristischen Kenntnisse halfen, Juden die Flucht zu ermöglichen. Unglaublich erscheint, daß sie zur Rettung Verfolgter ins Reichssicherheitshauptamt nach Berlin fuhr. Im April 1943 wurde die Lage auch für sie zu gefährlich. Bei einer calvinistischen Arbeiterfamilie, der die Hilfe trotz der Gefahr selbstverständlich war, wurde sie versteckt. „Wenn sie mich bei euch finden, werdet ihr auch erschossen. Ihre Antwort: Das haben wir dafür übrig.“

Auch als Haushaltshilfe setzte sie ihre Widerstandsarbeit fort, im Mai 1945 kam endlich die Befreiung. „Es war vielleicht die schönste Zeit meines Lebens, es war eben plötzlich eine Freiheit da, das Gefühl, nicht mehr unter Druck und Gefahr zu sein. Das war unglaublich. Das würde ich gerne noch einmal erleben.“

Bei einer ihrer Reisen nach Hamburg traf sie Heinz Liepman. Sie kannte ihn aus der Zeit vor dem Krieg, „vom Wegsehen“, wie sie schreibt. Heinz Liepman war Jude, ebenfalls in Hamburg aufgewachsen. Vor 1933 war er Mitglied im „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“. Als couragierter Journalist hatte er sich zum Feind der Nationalsozialisten gemacht. 1933 mußte er emigrieren, seine Bücher wurden verbrannt, er selbst ausgebürgert. 1947 war er aus dem amerikanischen Exil als Korrespondent von Time zurückgekehrt. In seinem „Gepäck“ hatte er eine Liste von Autoren und Büchern, für die er deutsche Verlage finden sollte. 1949 heirateten Ruth und Heinz Liepman. Ein Jahr später gründeten sie die Literaturagentur, die heute eine der bekanntesten und angesehensten in der Welt ist. Zu den ersten vermittelten Autoren zählten Norman Mailer („Die Nackten und die Toten“), J.D. Salinger („Der Fänger im Roggen“), später war es z.B. „Das Tagebuch der Anne Frank“, aber auch der Bestseller „Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung“ von Eric Malpass. Die Wohnung der Liepmans in Hamburg wurde zu einem kulturellen Treffpunkt. Zu ihren Freunden gehörten u.a. Gisela und Alfred Andersch, das Verlegerehepaar Hilde und Eugen Claassen, Joy und Günther Weisenborn.

Seit 1961 hat die Agentur ihren Sitz in Zürich. 1966 starb Heinz Liepman; seitdem führt Ruth Liepman die Agentur gemeinsam mit ihren Partnerinnen Eva Koralnik und Ruth Weibel. Die Liste der ihrer angelsächsischen, französischen, holländischen, israelischen Autoren liest sich wie ein internationales Who's who? der Literatur.

Nun ist Ruth Liepman selbst zur Chronistin ihrer Zeit geworden. Im Nachwort schreibt sie: „Ich war immer, von Kind an, ein Mensch mit Freunden. Einsamkeit und Alleinsein waren in meinem Leben ganz seltene Erfahrungen. Wo ich konnte, half ich selbst, und immer, wenn es nötig war, wurde mir geholfen. So ist dieses Buch, das nicht zuletzt von jemandem berichtet, dem man in dunklen Zeiten im Ausland Asyl gewährte, ein Plädoyer für die Solidarität unter den Menschen.“

Ruth Liepman: „Vielleicht ist Glück nicht nur Zufall. Erzählte Erinnerungen“. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1993, 253 Seiten, 34 DM