Das Ende vom Anfang

Die Teilung der ČSFR hat den fünf Millionen Slowaken bisher nur Nachteile beschert – droht dem jungen Staat jetzt der Bankrott?  ■ Aus Bratislava Erwin Single

Es gehört heutzutage wohl zu den Gepflogenheiten der Völker, eigene Niederlagen als Triumphe zu feiern. Vladimir Mečiar beispielsweise hat damit überhaupt keine Probleme. Der autoritäre wie wortgewaltige Premier der Slowakei sieht seinen jungen Staat trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten auf dem Weg in ein Wirtschaftswunderland, die „Schweiz des Ostens“, wie er es gerne nennt. Und Privatisierungsminister Lúbomir Dolgaš sekundiert seinem Regierungschef mit der Erklärung, Investoren aus dem Westen drückten sich bei den slowakischen Unternehmen die Klinke in die Hand.

So weit wie die blühende Phantasie der beiden aber reicht das Auge der Slowaken nicht. Der Tort, den sich die offiziellen Regierungsvertreter mit ihrer Operation Schadenbekämpfung fast täglich antun, verliert bei den Landsleuten erstaunlich schnell an Reiz. Nach einer Umfrage sind inzwischen 87 Prozent davon überzeugt, daß ihnen die Teilung auf tschecho-slowakisch mehr geschadet als genützt hat. Vom Anstehen der reichen Kapitalisten aus dem Westen haben sie ebensowenig mitbekommen wie von den versprochenen Vorteilen, dafür aber von den Schlangen vor Banken und Geschäften, in die sie sich schon kurz nach der Teilung einreihen mußten, um die jeden Tag schwächer werdende Krone noch schnell in harte Devisen einzutauschen oder mit Hamsterkäufen der befürchteten Abwertung zuvorzukommen.

Kaum vier Monate ist es her, seit sich das Fünf-Millionen-Völkchen seine Sehnsucht nach einem eigenen Staat erfüllte. Aber was hat es gebracht außer einer Nationalflagge mit dem Doppelkreuz und einer neuen Hymne? Zwar sind die Slowaken als Frühaufsteher bekannt, den von allen Seiten prophezeiten wirtschaftlichen Niedergang konnten sie damit nicht verhindern. Noch sperrt sich die Regierung gegen eine Abwertung der slowakischen Währung und hat sich dadurch mit dem Internationalen Währungsfonds überworfen, doch niemand glaubt ernsthaft, daß sie diesen Kurs noch lange durchhalten kann. Die slowakischen Devisenreserven sind in der Zwischenzeit von rund 324 Millionen US-Dollar auf weniger als 25 Millionen zusammengeschrumpft. Das Haushaltsdefitzit, das sich bereits auf über 13 Milliarden Kronen (rund 750 Mio. Mark) beläuft, liefert fast wöchentlich neue Rekordmarken. Wie wenig Geld in der Staatskasse liegt, zeigen auch die bereits verfügten Sparmaßnahmen. So wurden etwa die Lehrergehälter um 1.000 auf 3.000 Kronen gekürzt. Das Haushaltsloch wird zudem eifrig über die Notenpresse bedient. Das Ergebnis: Die Inflationsrate kletterte auf rund 20 Prozent.

Doch das ist bei weitem noch nicht alles: Der Streit mit Tschechien um die ungelösten Eigentumsfragen gefährdet die bestehende Zollunion. Zugespitzt hatte sich die Auseinandersetzung spätestens, als der tschechische Regierungschef Václav Klaus die Privatisierungskupons der Slowaken an tschechischen Unternehmen auf Eis legen ließ. Außerdem verlangt er, daß sich die Slowakei zu den Schulden der aufgeteilten Staatsbank bekennt. Die dafür fälligen 24,7 Milliarden Kronen kann das Land jedoch nicht aufbringen, und eine Umstellung des Handels mit den tschechischen Nachbarn auf Hartgeld brächte die Slowaken an den Rand des Ruins. Verglichen mit der tschechischen Republik, erschweren die schlechtere Infrastruktur, die niedrigere Produktivität, die stärkere Orientierung auf den früheren Comecon-Raum und der kleinere Binnenmarkt ohnehin die Ausgangsbedingungen des jungen Staates. Und mit gut 15 Prozent liegt die Arbeitslosenquote fünfmal so hoch wie in Tschechien. Die Folge der eingebrochenen Produktion: Den fehlenden Steuereinnahmen stehen immer höhere Ausgaben für die soziale Bewältung der Krise entgegen.

Noch glaubt die Ministerriege, wegen der günstigen Produktionskosten bald Investoren aus dem Ausland zu finden. Die Löhne sind mit durchschnittlich 4.000 Kronen niedrig; zudem werden die Preise für Energie und Arbeit kräftig vom Staat alimentiert. Aber nach wie vor bleiben die Rahmenbedingungen der Privatisierung im Nebel: Kein ausländischer Interessent weiß, ob er bei einer für ihn in den Schlüsselindustrien vorgeschriebenen Minderheitsbeteiligung überhaupt mitbestimmen kann, was er mit den Gewinnen anstellen darf oder wer für die Altlasten haftet. Zudem lastet der schwere Geruch der späten Industrialisierung wie ein Fluch auf der Republik. Die stinkenden Riesenkonzerne vorwiegend im Schwer- und Rüstungsindustriebereich sind unrentabel, weil sie längst den Großteil ihrer Kundschaft verloren haben, nicht zu verkaufen, weil sich niemand die monströsen Fehlinvestitionen um den Hals binden will, und nicht zu modernisieren, weil es dafür kein Geld gibt.

Ein Besipiel dafür bietet der Chemie- und Raffineriegigant Slovnaft in Bratislava. Das Werk, das jährlich über vier Millionen Tonnen russisches Rohöl zu Kraftstoffen und chemischen Produkten weiterverarbeitet, ist unumstrittener Monopolist im Land – trotzdem hat keiner der westlichen Mineralölkonzerne bislang den Einstieg gewagt. Noch schlechter sieht es bei der Rüstungsschmiede ZTS Turčianske Strojárne aus: Die Konversionsprojekte kommen nicht so recht ins Laufen, und wer will schließlich zu Traktoren umfunktionierte Panzerwagen haben? Der T-72-Panzer, so hatte Jozef Bakzay, letzter gemeinsamer Außenhandelsminister der ČSFR, prophezeit, sei der einzige Exportartikel der Slowaken, mit dem sie Devisen verdienen können. Jetzt wird nach neuen Märkten für die tödlichen Gerätschaften gesucht – neben den Kroaten hat auch Syrien großes Interesse gezeigt. Vladimir Mečiar nahm den Kurswechsel schon vor drei Monaten vor: Aus sozialen Gründen müsse man die Rüstungsproduktion an bestimmten Standorten wieder aufnehmen.

Reichlich desillusioniert hat man in Bratislava inzwischen auch zur Kenntnis genommen, daß der Zugang zur Europäischen Gemeinschaft nicht gerade sperrangelweit offen steht. Die westliche Welt nahm die Slowaken lange Zeit nicht zur Kenntnis, sie hielt sie für Tschechen, und nun, da sie unabhängig sind, schüttelt sie verständnislos den Kopf. Die Handelspolitik Brüssels, kritisieren die Slowaken, falle in die Zeit des Kalten Krieges zurück. Ausgerechnet bei den für sie wichtigen Ausfuhrgütern wie etwa Stahl, Textilien oder Agrarprodukten haben sich die Kommissare allerlei Barrieren einfallen lassen. Die schlechte Konjunktur in Westeuropa trägt ein übriges dazu bei, daß die Warenströme aus dem Osten niedrig bleiben – sie brachen seit Jahresbeginn sogar um rund ein Viertel ein. Angesichts derart schlechter Aussichten kann auch Mečiar die Augen nicht länger vor den Problemen verschließen. Neuerdings schwört er in Parlamentsreden die Bevölkerung auf härtere Zeiten ein: Die wirtschaftliche Lage sei schlimmer als in den 30er Jahren.