Am Ende ihres Lebens suchen sie Rehabilitation

■ Ehemalige ZwangsarbeiterInnen kehrten auf den „Domänenhof“ zurück / Im Gepäck hatten sie nicht nur die schmerzende Erinnerung

hier den kahlgeschorenen

jungen Mann

Ilja Pugatsch, 1942

Verden, Montag mittag: Auf dem Parkplatz des Hotels Niedersachsenhof wandern Menschen mit Namensschildern auf der Brust unruhig auf und ab. Sie erwarten ungewöhnliche Gäste. 130 ehemalige ZwangsarbeiterInnen und ihre Begleiter hat der Landkreis zu einer „Woche der Begegnung“ eingeladen. Die meisten kommen aus den GUS- Staaten und aus Polen, einige aus Frankreich und Belgien. Der erste Bus biegt auf dem Parkplatz ein. 35 Menschen aus der russischen Staatengemeinschaft. Etwas steif noch von der langen Reise steigen sie aus. Alte Männer mit zerfurchten Gesichtern, Orden an den Revers der grauen Jackets; rundliche, bäuerlich anmutende Frauen mit bunten Kopftüchern, Strickjacken und geblümten Kleidern; jüngere Leute aus der Kinder- und Enkelgeneration, die sehen sollen,

wo die Alten ihre Jugend ließen. Wartende und Ankommende taxieren sich unsicher. Eine Angestellte des Landkreises verteilt gelbe Rosen, die mit dankbarem Lächeln angenommen werden. Die ersten Blitzlichter zucken. Namen werden verlesen.

Begrüßung: Manche fallen

sich um den Hals

Gäste und GastgeberInnen finden sich. Einige ehemalige Zwangsarbeiter fallen ihrem früheren Dienstherrn um den Hals. Nicht überall waren sie wie Vieh gehalten worden. Viele sind privat untergebracht. Wer sich soviel Nähe nicht zumuten mag, wohnt im Hotel.

Die große Uhr am Turm des Haupthauses zeigt 12.30 Uhr, seit mindestens 20 Jahren. „Nach dieser Uhr mußten wir damals arbeiten, von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends“, erinnert sich Ilja Pugatsch. Hier, auf dem Hof der ehemaligen Staatsdomäne Ehlermann in Rieda, ist er schon einmal angekommen, vor 51 Jahren. Damals war er 15. Aus seiner Brieftasche zieht er ein Foto: Ein junges Gesicht mit schwarzen Ringen unter den Augen, der Schädel kahlgeschoren, an der groben Arbeitsjacke ein Schild mit einer Nummer.

Auf einem Pferdewagen kamen sie damals in Rieda an, ausgehungert, verdreckt, stinkend. Selbst ihre Notdurft hatten sie auf dem Wagen verrichten müssen. Sie sahen so aus, wie sie dem gaffenden Volk präsentiert werden sollten: wie Untermenschen.

Die Erinnerungen treiben die

Tränen in die Augen:

„Jetzt kann ich sterben“

Am nächsten Tag erhielten sie Holzpantinen, die ihre nackten Füße bei der Arbeit wundscheuerten, weiß Pugatsch noch. Ein winziges Stück Brot und Ersatzkaffee waren die Tagesration für die hart arbeitenden Jugendlichen. Sie schlangen den Schweinen die Abfallkartoffeln weg und stahlen beim Melken heimlich Milch.

Beim Rundgang über den Hof wird vieles wieder lebendig. Wer nicht spurte, bezog Prügel von Domänenverwalter Ehlermann. Über die ohnehin schon schwere Arbeit hinaus quälte der Ortsbauernführer die Jungen. Sie mußten von Disteln durchwachsendes Getreide binden. Für ihre bis aufs Blut zerstochenden Hände empfahl er: „Da pißt ihr heute abend drauf, dann heilt das wieder.“

Die Domäne liegt direkt hinterm Deich. Eine Kulisse wie im Heimatfilm: Die Weser schlängelt sich silberblau durch saftig grüne Wiesen. Im Frühlingswind tausendfach wippender Hahnenfuß, der Duft von Flieder und Weißdornhecken, ein Kahn tuckert vorbei... Auf der Deichkrone steht Alexej Nevinnij, Tränen in den Augen.

Zuviele Bilder steigen auf: der Hunger, die Prügel, die Freunde, die wie Michael „in der deutschen Erde geblieben sind“. Übersetzerin Emma Rothmaler nimmt den alten Mann kurz in den Arm. Alexej möchte ein Stück den Deich entlanggehen. „Jetzt kann ich sterben“, sagt er.

Ehemalige ZwangsarbeiterInnen sind ganz normale Menschen. Nach Deutschland geführt hat sie nicht allein der hehre Wunsch nach Geschichtsaufarbeitung, sondern auch der profane Wunsch nach Konsum. Sie wollen nicht nur ihre ehemaligen Arbeitsstätten aufsuchen, sondern auch zu Woolworth und Aldi. Im Gepäck haben sie nicht nur Erinnerungen, sondern Fuchspelze und russische Zigaretten. In ihrer Heimat herrscht Mangel, und sie wollen harte Mark einhandeln. Die Enkelin möchte eine Barbie, die Schwiegertochter braucht neue Schuhe.

Sind die Deutschen jetzt ein anderes Volk? Achten sie uns? Geben sie uns unsere Menschenwürde zurück? Ein Ukrainer erzählt: Auf der Fahrt von Frankfurt nach Verden machte der Bus an einer Raststätte halt. Alle waren verwundert über das reichhaltige Angebot am Buffet. Sie stopften sich die Taschen voll mit Marmelade, Butter und Käse im Plastikpack. „Alle dachten, sowas kriegen wir bestimmt nicht wieder“, erklärte der Mann. Das Personal in der Raststätte sah's und schwieg. Zurück im Bus meinte der deutsche Reiseleiter jedoch, die Gäste belehren zu müssen, daß sich so etwas nicht gehöre. „Das war nicht gut, das war peinlich für uns“, sagt der Ukrainer. Viele seien arme Rentner, die ihrer Familie gern etwas mitbringen wollten.

Die Zwangsarbeit hat tiefe Spuren in den Biographien der Menschen hinterlassen. Für die Arbeitssklaven aus dem Osten ging das Leben nach 1945 nicht einfach wieder seinen Gang. Stalin waren alle suspekt, die nicht im Großen Vaterländischen Krieg gekämpft hatten. Wer für die Deutschen gearbeitet hatte - egal, ob freiwillig oder gezwungen — würde es vielleicht auch wieder tun. Verhöre durch das KGB und Arbeitslager erwarteten die HeimkehrerInnen.

Sie wurden schweigend

gefragt: Warum lebt ihr —

wo doch so viele

umgekommen sind

Ein Vermerk in ihren Papieren und ihren Kaderakten brandmarkte sie noch Jahrzehnte als unsichere Kandidaten.

Verwandte und Bekannte forderten, meist wortlos, eine Erklärung — warum sie noch lebten, wo doch so viele umgekommen waren. Am Ende ihres Lebens suchen sie hier Rehabilitation.

Joachim Woock, Geschichtslehrer am Verdener Berufsschulzentrum und Initiator der „Woche der Begegnung“, brachte alles ins Rollen. Seit 1987 erforscht er mit seinen SchülerInnen das Schicksal der Zwangsarbeiter im Arbeitsamtsbezirk Verden. 17.886 waren es zwischen 1939 und 1945. Zu einigen hundert konnte Woock über die polnischen und russischen Zwangsarbeiterverbände Kontakt aufnehmen. In ihren Briefen wurde immer wieder der Wunsch deutlich, die Stätten ihres Leidens und ihrer verlorenen Jugend noch einmal zu sehen.

Nun sind sie da, und wer sie auf dieser Reise in die Vergangenheit begleitet, kommt nicht ohne innere Bewegung davon.

Marie Beckmann