Langer Marsch zum Markt

In Vietnam bringen die radikalen Wirtschaftsreformen mäßiges Wachstum, soziale Ungleichheit und einen Aufschwung der Prostitution  ■ Aus Hanoi Peter Dienemann

Ngyuen Van Hop wischt sich die Schweißtropfen von der Stirn, dann lehnt er sich gegen sein „Cyclo“, jene dreirädrigen Fahrrad-Rikschas, die bis heute das beliebteste Verkehrsmittel in Vietnams Hauptstadt Hanoi sind, in denen die Passagiere vor dem Fahrer zwischen den beiden Rädern sitzen. „Sechs Jahre lang hab' ich in Magdeburg gelernt und gearbeitet. Was hat es mir gebracht? Gar nichts.“ Der 42jährige Hop hat im Karl-Liebknecht-Maschinenbauwerk den Beruf des Härters erlernt. „Als ich dann zurückging – einige meiner deutschen Freunde haben sogar geweint – fand ich hier gar nichts vor. Keine Arbeit, kein Haus, halt nichts.“

Doch er hatte etwas Startkapital in der DDR angespart, mit dem er immerhin ein Häuschen kaufen und heiraten konnte. Und obgleich die Arbeitslosigkeit auf mindestens 30 Prozent geschätzt wird, fand er Arbeit in einer der Fabriken um Hanoi. Die umgerechnet 12 Mark Wochenlohn reichten allerdings bei weitem nicht aus. Für 50 Mark kaufte sich Hop deshalb ein Cyclo und verdient sich seither sein Geld vor allem mit dem Transport von zahlungskräftigen Ausländern. Jetzt nimmt er mindestens 50 Mark am Tag ein: die Geschäftsleute aus Taiwan, Singapur und Thailand – in der Hauptstadt, um im wochenlangen Papierkrieg Import- und Exportgenehmigungen zu besorgen, zahlen in harten US- Dollars. „Wer nicht clever ist und irgendwie mit Ausländern ins Geschäft kommt als Führer, Taxifahrer oder Kommissionär, der hungert oder muß zwei Jobs machen.“ Hop wird sich in zwei Jahren ein Taxi für 3.000 Dollar kaufen können.

Gewitzt wie ein Alter ist auch der 12 Jahre junge Vin, Hops Freund, der mit ein paar Brocken Englisch seine Dienste Ausländern vor dem Bac Nam Hotel anpreist. Den meisten seiner Alterskollegen unter den Straßenkindern aber, die aus den armen nördlichen Provinzen in die Hauptstadt kamen, um sich dort irgendwie über Wasser zu halten, bleibt nur das Betteln. Für sie ist die Straßenkreuzung vor dem einzigen modernen Warenhaus, dem staatlichen „Bach Hoa Tong Hop“, Arbeits-, Schlaf- und Essensplatz.

„Die sozialen Fragen haben Vorrang vor der Ideologie“, sagt der Politikwissenschaftler Nguyen Ngoc Dien. Angesichts der wirtschaftlichen Probleme des Landes gärt es auch innerhalb der vietnamesischen Kommunistischen Partei. Beim siebten Parteikongreß Ende vergangenen Jahres wagten es die Delegierten erstmals, offene und harte Kritik am Zentralkomitee zu üben, berichtet ein westlicher Diplomat.

Doch durch die verschlossenen Türen des Versammlungsraumes drang kein Wort davon nach außen. Beim Sonderparteitag im Dezember dieses Jahres, so nimmt er an, werden die Forderungen der Delegierten härter und lauter werden.

Jetzt „prangern unsere Zeitungen schon mal Korruption oder steigende Preise an“, freut sich der Ciclofahrer Hop und sieht darin „etwas Liberalisierung“. Doch im „Hanoi-Hilton“, wie das berüchtigte Zentralgefängnis der Stadt genannt wird, und in anderen Haftanstalten Vietnams sitzen noch immer mindestens 300 politische Gefangene, Künstler, Schriftsteller, Professoren und Studenten. Erst vor wenigen Wochen wurden acht von ihnen mit bis zu 20 Jahren Haft bestraft, weil sie der demokratisch orientierten Gruppe „Freiheits- Forum“ angehörten.

Die Vietnamesische Kommunistische Partei geht ähnlich wie die KP Chinas nach der Devise vor: Maximale Wirtschaftsreformen, minimale politische Reformen. Durch Gorbatschows Scheitern, der Glasnost proklamierte, ohne die Lebensbedingungen zu verbessern und so die Macht und die Sowjetunion verspielte, sehen sich die asiatischen Kommunisten in ihrem Kurs bestätigt.

Die Bedingungen für die Transformation der Planwirtschaft in eine sozialistische Marktwirtschaft sind in Vietnam denkbar schwierig: Die in den Jahrzehnten des Krieges zerstörte Infrastruktur ist noch nicht wieder aufgebaut. Das rachsüchtige Embargo der USA ist immer noch nicht aufgehoben, es herrscht notorischer Kapitalmangel, und ein Bankensystem ist erst in Ansätzen vorhanden. Die aufgeblähte, in der Regel korrupte und wenig qualifizierte staatliche Bürokratie hemmt unternehmerische Initiativen.

„Es geht zwar aufwärts“, versichert Dr. Nguyen Minh Tu vom Hanoier Zentralinstitut für Wirtschafts-Management. „Wir haben wunderbare Beschlüsse des Zentralkomitees: ausländische Firmen können bis zu 100 Prozent Eigentum in Vietnam erwerben und die Gewinne voll zurückführen. Exporte und Importe sollen erleichtert werden, doch fehlen die rechtlichen Grundlagen.“ Dennoch: Vietnam exportierte 1992 für 2.475 Milliarden Dollar und 26,2 Millionen Rubel, darunter 5,4 Millionen Tonnen Rohöl, und importierte für 2.505 Milliarden Dollar. Die Inflation ist von 600 Prozent im Jahr 1990 auf 15 Prozent gesunken, das Bruttosozialprodukt um zehn Prozent gewachsen.

Schleppende Privatisierung

Doch die Privatisierung der 12.000 zumeist defizitären Staatsbetriebe schleppt sich dahin. „Wie machen Sie das in Deutschland?“ wundert sich Dr. Hoang Van Nghien von der Hanel Electronikgruppe in Hanoi, der verzweifelt nach einem Käufer für seine Fernsehgerätefabrik sucht. Nur 3.000 der maroden Staatsbetriebe konnte die vietnamesische Regierung in den letzten drei Jahren loswerden – die meisten von ihnen wurden einfach geschlossen.

Hop, der Cyclo-Fahrer findet, daß er selbst auf dem richtigen Wege in die Marktwirtschaft ist: „Ich bin unabhängig von zu erreichenden Produktionszielen, die es bei uns immer noch gibt. Unabhängig von fester Arbeitszeit, Urlaubstagen und ideologischen Schulungen in den Betriebsversammlungen. Ich bin freier Unternehmer.“ Geldverdienen ist für Hop jetzt das Lebensziel, Thailand das große Vorbild. „Die Thailänder können einfach alles haben, was sie sich wünschen“, sagt er, „alle sind dort reich.“ Filme aus dem Nachbarland, Erzählungen und Schönfärberei thailändischer Besucher in Vietnam verzerren das Bild. Hop will nicht glauben, daß Bauern im Norden und Nordosten Thailands weniger verdienen als er mit seinem Cyclo.

In das für vietnamesische Verhältnisse „reiche“ Saigon, das offiziell Ho-Chi-Minh-Stadt heißt, zieht es Hop aber nicht, zuviel Schlechtes hat er über die Metropole des Südens gehört: „Das Leben ist teuer, eine Wohnung nicht zu bekommen. Und wenn ich mein Cyclo fahren will, muß ich mich erst registrieren lassen.“ Das muß er auch in Hanoi. Doch in Saigon kostet ihn dies mindestens drei Monatslöhne.

Hier haben sich nach der Wiedervereinigung im Jahre 1976, die eher einem unfreiwilligen Anschluß glich, weder die Menschen noch Stadt- und Provinzverwaltung jemals dem sozialistischen Diktat Hanois vollständig unterworfen. „Wir hatten immer Sonderstatus“, sagt Nguyen Son, Sprecher der Stadtverwaltung und Vorsitzender des Komitees für Kultur und Ideologie. Der nach wie vor dem american way of life nacheifernden Stadt fehlt es an Energie, das Leben ist teurer als in Hanoi, aber dennoch haben sich Tausende von ausländischen Firmen dort niedergelassen. Allein 1992 investierten 75 Lizenznehmer aus dem Ausland 24 Millionen Dollar.

Solche Investitionen scheinen sich zu rentieren. Der deutsche Speditionskaufmann, der in der ersten deutschen Kneipe Vietnams sitzt, zahlt seinen Angestellten zwar 200 Dollar Monatslohn – „für den offiziellen Lohn von 35 Dollar würde hier niemand mehr arbeiten“ – und monatlich 15.000 Dollar Lizenzgebühr für sein Lagerhaus, „Doch unter dem Strich bleibt noch genügend übrig.“

Saigons Chefideologe weiß eine Erklärung dazu: „Wir hier in Ho- Chi-Minh-Stadt sind eben mit westlichen marktwirtschaftlichen Regeln vertraut.“ Man spürt es: Die Preise für Güter des täglichen Bedarfs sind um ein Drittel höher als im Norden, die Zahl der Bettler um ein Vielfaches. 180.000 Menschen aus anderen Regionen fanden 1992 einen Job in der Stadt, deren Bewohnerzahl seit 1987 um eine Million auf 4,5 Millionen angewachsen ist. Zehntausende leben auf der Straße, weil sie keine Wohnungen finden können. „Wir bauen jährlich 15.000 Appartements“, rechnet Nguyen Son vor, „wir wissen, daß Menschen auf der Straße leben müssen, doch sie sind es gewohnt, solange es nicht regnet. Es sind schließlich Bauern, die in die Stadt kommen.“ Die Slums in Saigon wachsen, werden von der Stadtverwaltung abgerissen, um neues Bauland zu schaffen, die Slumbevölkerung zieht notgedrungen um.

Mit der Liberalisierung und der Propagierung von Privatinitiative, aber auch mit dem Tourismus und der Ankunft ausländischer Geschäftsmänner erlebt auch ein Gewerbe einen neuen Aufschwung, welches zuletzt während des Krieges blühte – die Prostitution. Sie ist offiziell verboten, doch die wie in fast allen asiatischen Ländern korrupte Polizei toleriert sie. Rund um die Dong-Nu-Straße im ersten Bezirk hat sich ein regelrechter Rotlichtbezirk etabliert. Smarte Ausländer und Vietnamesen locken mit Namen wie „Apocalypse Now“ oder „Good Morning Vietnam“ in ihre schmuddeligen Bars, wo sich die dancing girls, euphemistisch auch „Blumen der Nacht“ genannt, hinter einer Cola verstecken und auf Freier warten. Gleich in der Nähe, im „Maxim“, einem ehemals stilvollen französischen Cabaret-Restaurant, betrinken sich japanische Geschäftsleute mit ihren vietnamesischen Partnern – und „Freundinnen“ – derart lautstark, daß die Darbietungen auf der Bühne untergehen, und die Gäste aus Fernost schließlich wankend den Saal verlassen. „Die haben das Geld“, meint resignierend der ältere Kellner, der schon amerikanischen Soldaten Bier ausgeschenkt hat.

Vornehmer geht's auf der Dachterrasse des legendären Rex-Hotels auf dem Le-Loi-Boulevard zu. Hier schlürfen Saigons nouveaux riches mit Diplomaten und Managern Gin Tonic. Die Prostituierten kreuzen derweil weiter die Straßen auf ihren kleinen Mopeds: „Hey Joe, where do you go“, rufen sie morgens um zwei. Saigon – fast –, wie es einmal war.