Unterricht gegen den Lärmpegel von 72 Dezibel

Versagt die Schule angesichts von Haß und Gewalt? / Lehrer müssen heute mehr bieten als reine Wissensvermittlung / Erziehung gerät dennoch zum Konsumtrip, und dafür sorgte auch die konservative Politik / Ein Plädoyer  ■ Von Rainer Werner

Seit dem militanten Herbst 1992, in dem sich dumpfer Rechtsradikalismus unter Jugendlichen eruptiv Bahn brach, herrscht in der liberalen Öffentlichkeit Bestürzung und Ratlosigkeit. Hatte man nach den langen Jahren relativer Ruhe in der Bundesrepublik an den unaufhörlichen Fortschritt aufklärerischen Denkens geglaubt, so wurde jetzt deutlich, wie dünn die „zivilisatorische Decke“, die das Barbarische zudeckt, in unserer Gesellschaft tatsächlich ist. In den Feuilletons der Zeitungen wurde nach Schuldigen für das Wegbrechen der Gewalttabus und der Haßschranken gesucht. Die Rede war von Fehlern der 68er – Stichwort: antiautoritäre Erziehung – oder von Versäumnissen der Schule und ihrer Lehrer.

Auffällig bei aller Polemik war die Dogmatik. Manchmal fühlte man sich an den Disput um den Golfkrieg vor zwei Jahren erinnert. Merkwürdig auch, daß die Autoren von ihrem erlernten Handwerk, der sozialen Analyse, so wenig Gebrauch machten. Wollten sie ihre Thesen nicht durch die Wirklichkeit blamieren lassen?

Die Schule – nur ein „Reparaturbetrieb“?

Daß die Schule Teil und Abbild der Gesellschaft ist, in der sie wirkt, ist eine Binsenweisheit. Dennoch muß man sich diese Tatsache gerade jetzt vor Augen führen, wenn man zu schnelle Schuldzuweisungen vermeiden will.

Schule ist heute eine der letzten Erziehungsinstanzen, in denen junge Menschen einigermaßen systematisch sozialisiert werden. Die kirchlich-religiöse Bindung Jugendlicher ist fast bis zur Bedeutungslosigkeit geschwunden. Damit fielen auch Werte über Bord wie: Nächstenliebe, Opferbereitschaft, Achtung vor dem Mitmenschen. Gleichzeitig hat das Elternhaus in weiten Kreisen der Bevölkerung die prägende Kraft verloren. Medial vermittelte Ideale sind mächtiger als die oft hilflosen Appelle von Eltern an ihre Kinder, „doch anständig zu sein“.

Ein Blick auf die heutige Familienstruktur zeigt gegenüber den 60er Jahren einen völligen Wandel: In jeder großstädtischen Schulklasse sitzen überwiegend Einzelkinder; viele erleben im Laufe ihrer Schulzeit den zweiten oder dritten „Lebenspartner“ der Mutter. Bundesweit erlebt jedes dritte Schulkind die Scheidung der Eltern. Muß man sich dann darüber wundern, daß von erzieherischer Kontinuität, von einer Einbettung in Vertrauensverhältnisse innerhalb des Familienverbandes kaum noch geredet werden kann?

Die Schwächung elterlicher Autorität auf die Studentenrevolte zurückzuführen, wie es Claus Leggewie in der Zeit tut, ist jedoch zu vordergründig. Als Soziologe müßte er wissen, daß gesellschaftliche Bewegungen nur anstoßen können, was in der Gesellschaft angelegt ist. So betrachtet war die Studentenrevolte mit ihren antiautoritären Affekten lediglich der Anstoß für einen notwendigen Modernisierungsschub. Die rituell erstarrte Gesellschaft Konrad Adenauers mußte auf das Niveau des amerikanischen Konsummodells gehoben werden. Der autoritätshörige, zu Anpassung, Verzicht und Triebaufschub neigende Bürger mußte zum hedonistischen, mit Wünschen ausgestatteten Käufersubjekt mutieren. Genau dieser Wandel der Triebstruktur macht uns heute zu schaffen. So wies der US- Konservative Daniel Bell auf das Dilemma hin, daß gerade die Werte, die man am Konsumenten schätzt, wie Konsumlust, Ich-Bezogenheit, über kurz oder lang staatsbürgerliche Tugenden, die auf Gemeinsinn angelegt sind, unterhöhlen müssen.

Angewidert von den kruden Formen der Vergesellschaftung, vom Sex-and-Crime-Mix der privaten TV-Medien, der Absahnmentalität im Volke, vergessen die Konservativen jedoch völlig, daß sie es waren, die durch die Öffnung zu totalem Kommerz die Geister riefen, die sie jetzt am liebsten wieder loswerden würden. Ihnen dadurch Entlastung zu gewähren, indem die Linke – vor allem einige zerknirschte 68er – in den Ruf nach mehr Autorität einstimmen, ist nicht nur sachlich verfehlt, weil unhistorisch, sondern kündet vom geringen Selbstbewußtsein der ehemaligen „Stürmer und Dränger“.

So makaber es klingt: Als die Unterschicht ihre Kinder noch mit Prügeln zur Räson brachte, ohne dabei ein schlechtes Gewissen haben zu müssen – die 68er-Pädagogik hat diese Skrupel zu Recht erzeugt –, hatten diese Kinder zwar auch keine wertegeleitete Steuerung ihres Verhaltens, die Angst vor Strafe fungierte jedoch als Damm vor dem Überschwappen der eigenen Affekte.

Anstelle von Prügeln: Erziehung zum Konsumtrip

Heute ist in dieser Schicht an die Stelle des erzieherischen Zwangs die materielle Verwöhnung, vielfach die Abwesenheit von Erziehung getreten. Vollgestopft mit den Segnungen des Computerzeitalters, werden viele dieser Kinder zu nervösen, sprachunfähigen, latent aggressiven Geschöpfen. Untersuchungen belegen, daß Kinder und Jugendliche, wenn sie andere körperlich verletzten, dabei und danach keinerlei Schuldgefühl oder Unrechtsempfinden haben. Das ist das eigentlich Bestürzende. Eine Erziehung ohne Vermittlung von affektiven Mustern, bleibt hohl. Jede später darauf aufbauende schulische Erziehung ist reine Flickschusterei, letztlich eine Sisyphusarbeit.

Aber auch in der von der Erziehungstheorie viel gerühmten Mittelschicht ist es mit dem Erziehungsverhalten nicht zum besten bestellt. Auch hier hat der Konsumismus der letzten 20 Jahre zu einer nachhaltigen Veränderung des Lebensstils geführt. Der Soziologe Gerhard Schulze weist in seiner Studie über die „Erlebnisgesellschaft“ nach, daß viele Jugendliche aus der Mittelschicht Werten ganz eigener Art nachhängen. Sie haben einen Ich-verankerten Weltbezug und neigen dazu, ihren Selbstverwirklichungstrieb auszuagieren. So wird das Ausagieren von Befindlichkeiten und Stimmungen als legitim angesehen.

Jeder Lehrer kann davon heute ein Lied singen. Die Fähigkeit, anderen zuzuhören, sich selber zurückzunehmen und Frustration zu ertragen, ist in manchen Klassen gegen Null geschwunden. Das Ausagieren emotionaler Befindlichkeiten ohne Rücksicht auf die kommunikative Situation und die ellenbogenbewehrte Durchsetzung eigener Interessen – all dies markiert heute den psychischen Kosmos der Schulwelt, dem die meisten Lehrer nur noch mit resignativer Verzweiflung beizukommen suchen.

Die Verachtung der Form – Demokratie braucht Regularien

Doch auch die 68er-Bewegung kann sich nicht ganz aus der Verantwortung stehlen. Die Verachtung für die „formale“ Demokratie, für die Regularien des demokratischen Prozesses war ein Axiom der Studentenrevolte. Hinter der als „nur formal“ denunzierten bürgerlichen Demokratie immer etwas „Höherwertiges, Eigentliches“ suchend, wurden die für jedes demokratische Gemeinwesen unabdingbaren formalen Regularien als vordergründiges Politschauspiel verachtet. Dieses Demokratieunverständnis in den Köpfen vieler ehemaliger 68er, von denen viele als Meinungsmultiplikatoren (Lehrer, Wissenschaftler, Journalisten) den Weg durch die Gesellschaft angetreten haben, hat die Erosion demokratischer Tugenden wie Kompromißfähigkeit und Selbstrelativierung, die durch das Selbstverwirklichungspostulat der modernen Konsumgesellschaft ausgelöst wurde, begünstigt.

Auch hier liefert die Schule wie im Mikrokosmos das Abbild der Gesellschaft. Der Lehrer muß sich in jeder Stunde aufs neue gegen eine brabbelnde, sich umherlümmelnde amorphe Schülerschaft durchsetzen. Wem das nicht gelingt, dem bleibt nur noch, wie ein GEW-Experte neulich beklagte, gegen einen Lärmpegel von 72 Dezibel „anzuunterrichten“. Alte und gewachsene Demokratien, wie die angelsächsische, wissen, warum sie in Schulen an vermeintlich vordemokratischen Ritualen (Schuluniform, Aufstehen, Grüßen) festgehalten haben. Sie halten ihre domestizierende, letztlich zivilisierende Wirkung für unverzichtbar. Auch wenn wir zu diesen starren Formen der Disziplin nicht mehr zurückwollen, muß Schule dennoch zu einer verbindlicheren, mit Sanktionen bewehrten Struktur des Lernens zurückfinden. Die Form muß gestärkt werden, damit der Inhalt besser vermittelt werden kann. Ordnung ist dann kein Wert an sich, sie ist der Rahmen, in dem sich die Vermittlung von Inhalten und Werten sinnvoll vollziehen kann.

Viele Lehrer müssen sich auch von der Haltung verabschieden, in jeder Gewaltäußerung eines Schülers die Manifestation anderer, fehlgeleiteter Bestrebungen zu sehen oder zu suchen. Die Antworten von Schülern auf die Frage nach den Gründen für ihre Zerstörungswut sind da viel ehrlicher, als die sozialarbeiterliche Fürsorge es wahrhaben will. Hier ist von „Spaß“ oder „geilem Feeling“ die Rede.

Schule sollte statt des psychologischen oder lebensgeschichtlichen Hinterfragens, häufiger die wirksamere Methode der pädagogischen Ächtung – verbunden mit praktischer Wiedergutmachung (analog zum Täter-Opfer-Ausgleich im Jugendstrafrecht) anwenden. Erziehung muß die Nichtaggressiven, vermeintlich Schwachen – die eigentlich die Stärkeren sind – schützen. Dazu gehört die Errichtung eines absoluten Gewalttabus: Akte der Roheit und Gewalttätigkeit sollten in jeder sozialen Lebensgemeinschaft „das Ende der Fahnenstange“ markieren.

Körperkult und Outfit – Die Bodybuildingjugend

In Jugendcliquen jeglicher Couleur gibt es einen ausgiebigen Körperkult. Outfit ist in. Im Kampf der Gangs werden Jacken geraubt und Aufnäher („Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“) abgerissen. An der Farbe der Schnürsenkel soll angeblich zu erkennen sein, ob es sich um neofaschistische oder linke Skinheads („Redskins“) handelt. Der Stiefel ist zum wichtigsten Requisit der Jugendkultur geworden. „Doc Martens“-Schuhe, ursprünglich für britische Hafenarbeiter entwickelte Sicherheitsstiefel, und militärische Fallschirmspringerstiefel sind die begehrtesten Utensilien der militanten Jugend, ob bei rechten Skins oder linken Autonomen. Jemanden „niederstiefeln“ war eines der Unworte des Jahres 1992.

Jede Jugendgeneration hatte ihre äußerlichen Erkennungszeichen. Sie sind identitätsstiftend und dienen zur Abgrenzung von der Erwachsenenwelt und von Subgruppen der eigenen Szene. In den 50ern waren es die Existentialisten mit ihren Rollkragenpullovern samt Pfeife, später die Rocker mit Lederjacke und Schmalztolle, bei den 68ern galten Parka und lange Haare. Was heute jedoch signifikant anders ist, ist die Ausschließlichkeit, mit der die Körperlichkeit in den Mittelpunkt jugendlichen Empfindens rückt. Bodybuilding- und Kampfsport- Institute haben Konjunktur. Schulklassen pilgern in die modernen Tempel körperlicher Fitneß. Der Run aufs Körperliche zeigt jedoch ein deutliches Manko: Er drückt eine Entwertung des Geistes aus, so als habe der Intellekt vor dem Habitus der gestylten Hülle den Rückzug angetreten.

Über die Ursache für diesen Trend kann man streiten. Sicher hat die Werbewelt ihren Einfluß hinterlassen. Die Spots der Produktwerbung wimmeln von schönen, starken, adretten, getrimmten Männern. Vom Stolz auf den schönen und starken Körper ist es nur ein kleiner Schritt zur Enttabuisierung körperlicher Gewalt. Die letzte Shell-Studie über Einstellungen in der Jugend förderte Erschreckendes zutage: Für über 20 Prozent der Jugendlichen ist Gewalt denkbares Mittel zur Durchsetzung privater oder politischer Ziele. Hier ist auf breiter Ebene ein Tabu weggebrochen, das in jeder Zivilisation unverzichtbar ist.

Jugendliche, die ins Fadenkreuz der polizeilichen Ermittlung geraten, geben oft Langeweile als Motiv für ihre Gewalttaten an. Sinnleere also in einer Lebensphase, in der sich Jugendliche im Hochgefühl ihrer Kräfte glauben und „Bäume ausreißen“ könnten! Hier muß Schule tätig werden. Wo denn sonst, wenn nicht in dieser Institution, in der Jugendliche jahrelang zusammen lernen und leben, sollte Solidarität eingeübt werden?

Was ist zu tun? – Mehr Lebensrealität in die Schulen

Schluß gemacht werden muß dann allerdings mit der tradierten Vorstellung, Schule sei eine Anstalt der reinen Wissensvermittlung. Ob er will oder nicht, der Lehrer wird sich in den nächsten Jahren gezwungen sehen, ganzheitlich mit seinen Schülern umzugehen, ihre Lernprobleme als Lebensprobleme zu begreifen.

Schule muß heute außerdem Ganztagsschule sein. Es ist unsinnig, die Schüler um die Mittagszeit in eine sinnentleerte Freizeit ohne motivierende Angebote zu entlassen. Was andere Länder inzwischen als selbstverständlich betrachten, sollte auch bei uns endlich verwirklicht werden: Nach dem gemeinsamen Lernen das gemeinsame Miteinander bei Spiel, Sport, Musik und Theater; die Unterstützung von Stadtteilprojekten im Einzugsbereich der Schule; das Hereinholen von mehr Lebenswirklichkeit in die Schule. Dabei lernen Schüler, demokratisch mitzubestimmen, auf andere Rücksicht zu nehmen und das eigene Ego zu dem anderer in Beziehung zu setzen.

Jugendliche brauchen Verantwortung, sie wollen sich bewähren, ihre Kräfte erproben. Die Bahnen, in denen sie das tun, müssen wir, die Erwachsenen, die Lehrer und die Eltern, ihnen vorgeben. Dabei darf auch scheinbar Altbewährtes wie die verbriefte Schuldauer bis zum Abitur nicht länger tabu sein. Während die Pubertät der Jugendlichen sich nach vorn verschoben hat, verlagerte sich der Zeitpunkt des sozialen Erwachsenwerdens immer weiter nach hinten. Diese Kluft verstärkt bei vielen Jugendlichen das Gefühl, noch nicht verantwortlich tätig sein zu können, obwohl die eigenen Kräfte dies vehement verlangen. Die Zahl der Schulmüden, die sich in der Lernschule abquälen und sie letztlich ohne Abschluß verlassen, nahm in den letzten Jahren alarmierend zu. Wo sind nun die Schulpolitiker, die über ihren ideologischen Schatten springen und das in Angriff nehmen?