Weltmusik des Mittelalters

■ Die 7. Internationalen Festtage Alter Musik in Stuttgart

Um zur Entdeckung der geheimnisvollen Gesetze des Universums zu gelangen, kannte das europäische Mittelalter sieben Wege des Wissens – die sieben Freien Künste. Ein Weg zur Weisheit war die Musik. Sie war Bestandteil des abendländischen Lehrplans, wie er an den Kathedralenschulen gelehrt wurde. Den Schulmeistern, die Kleriker, Sänger und Komponist in einer Person waren, oblag die Erziehung der Chorschüler, denen sie nicht nur das Singen, sondern auch die lateinische Sprache beibrachten. Die Niederländer Gilles Binchois (1400–1460) und Guillaume Dufay (1400–1474), zwei der bedeutendsten Komponisten des frühen 15. Jahrhunderts, hatten diese Karriere durchlaufen. Ihre musikalische Ausbildung hatten sie als Chorknaben an den großen Kathedralen ihrer franko-flämischen Heimat erhalten: Binchois in Mons, Dufay in Cambrai. Danach gingen sie in die Fremde. Binchois kam als Kaplan nach Burgund an die Hofkapelle des Herzogs, während Dufay nach Anstellungen in Rimini und Pesaro der päpstlichen Kapelle in Rom beitrat. Die Welt des Geistes, zu der auch die Musik gehörte – verkörpert durch die Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden –, sprengte die territorialen Grenzen.

„Gilles Binchois in Burgund“, so war das Programm überschrieben, das die Spezialistengruppe „Gothic Voices“ im Rahmen der „7. Internationalen Festtage Alter Musik“ in Stuttgart vortrug. Es ist eines der wichtigsten Festivals dieses Genres in Deutschland, in diesem Jahr stand es unter der Thematik „Ausländische Musiker an europäischen Höfen“ und legte ein Schwergewicht auf die verschiedenen Spielarten früher Vokalmusik. Das englische Ensemble, das sich souverän unter der Leitung von Christopher Page präsentierte, beschränkte sich in seinem Programm allerdings nicht allein auf die Musik des Niederländers, die von Zeitgenossen wegen ihrer „contenance angloise“ – ihrem englischen Wohlklang – geschätzt wurde. Die Vokalgruppe versuchte darüber hinaus mit Werken von Dufay, Robert Morton und Johannes Cesaris etwas von dem „internationalen Stil“ hörbar zu machen, der die ganze Epoche erfaßt hatte, da die nationalen „Schulen“ der Franzosen, Engländer und Italiener sich aufzulösen begannen. So schollengebunden und lokal begrenzt der Horizont des Großteils der Bevölkerung in der mittelalterlichen Gesellschaft war, so kosmopolit und universal hatte sich der Gesichtskreis der Komponisten geweitet. Sie agierten weltläufig im internationalen Raum.

Der Lebenslauf eines Musikers konnte sich so in der Renaissance zu einer Tour d'Europe auswachsen. Dem nordfranzösischen Komponisten Antoine Brumel (1460–1515) begegnete man an der Kathedrale von Chartres, in Genf, Laon, Paris, bevor er nach Ferrara ging, während die Stationen seines Zeitgenossen, des Flamen Josquin Desprez (1440–1521), Mailand und Rom hießen, später war auch er in Ferrara tätig. In dieser norditalienischen Stadt in der Po- Ebene hatte sich unter der Fürstenherrschaft der Este ein vielfältiges Kunstmäzenatentum entfaltet: Tizian der Maler war hier, zahlreiche Poeten und Humanisten. Mit der Gründung einer Hofkapelle im Jahr 1471 wurde die Stadt auch zu einem Zentrum der Musik, wo sich Musiker aus halb Europa begegneten. Mit geschickt aneinandergereihten Meßkompositionen und Motetten von Josquin und Brumel, jeweils verbunden durch ein einstimmiges „Laude“, arbeitete das Hilliard Ensemble aus London den konzentrierten, meditativen Charakter der geistlichen Musik an der Schwelle zur Neuzeit heraus. Sakrale Musik war nur eine andere Art der Andacht.

Das gewandelte Weltempfinden der Menschen im Zeitalter der Renaissance tritt im Frühwerk Orlando di Lassos deutlich zu Tage, dem sich die Gruppe Cantus Cölln (Leitung: Konrad Junghänel) widmete. Bei den „Prophetiae Sibyllarum“, die Ende des 16. Jahrhunderts entstanden sind, handelte es sich um geheime Musik, die bis an die Grenzen der damaligen Kompositionspraxis ging und vom bayrischen Herzog in München, dem das Werk zugeeignet war, nur unter völligem Ausschluß jeder Öffentlichkeit allein gehört wurde. Diese Kompositionen hatten den kirchlichen Raum der Liturgie verlassen, waren aber trotzdem geistliche Musik geblieben. Die dunkel gefärbten Töne suchten einen individuellen Zugang zum Göttlich- Transzendenten, wobei sie aus antiken Quellen schöpfend, die Natur und das Menschsein in mystischer Verklärung zeichneten. Die Musik war der Fluchtweg, der es ermöglichte, dem irdischen Labyrinth zu entkommen, um sich ins Jenseits zu versenken.

Trotz des internationalen Zuschnitts der Musik ab dem 15. Jahrhundert, entstanden auch später immer wieder länderspezifische Stileigenheiten. Der englische Frühbarock trägt stark melancholische Züge durch die Handschrift von John Dowland, dem bedeutendsten Komponisten der Insel dieser Epoche, dessen „Songs“ im Mittelpunkt zweier Konzerte der Londoner Gesangsgruppe The Consort of Musicke standen. Dowland ist ein Meister des Schwermuts, der den „Blues“ des Zeitalters singt: „Aus dem Tal der tiefen Verzweiflung herauf, fülle ich die Luft mit traurigen Liedern.“ Christoph Wagner