■ Horst Meier: Parlamentarismus und Bürgerbewegungen
: Verteidigung des Parteienstaates

Zugegeben, jenes schwer zu fassende Etwas, für das in letzter Zeit das Prädikat „politische Klasse“ kolportiert wird, sorgt emsig dafür, daß sich viele von den Verfallserscheinungen des Parteienstaats ekelgeschüttelt abwenden. Das interfraktionelle Konglomerat aus eitler Geschwätzigkeit, Inkompetenz und miesen kleinen Geschichten, die noch im Skandalträchtigen niveaulos sind, ist wahrlich zum Erbarmen. Wo sich rechte und linke Stammtische darin einig finden, daß der Parteienstaat keinen Pfifferling wert sei, wird es höchste Zeit, diese für die Massendemokratie unverzichtbare Einrichtung zu verteidigen.

„Ratlose Riesen“ oder „Dinosaurier der Demokratie“ – seit geraumer Zeit schon künden die Titel der Sammelbände vom Ansehensverlust der westdeutschen Gründungsparteien. Die Ernüchterungsphasen der achtziger Jahre werden durch zwei Ereignisse markiert: Den parlamentarisch ambitionierten Teilen der Ökologiebewegung gelang es, das herrschende Parteienkartell aufzusprengen; bald darauf schlugen die Wellen der Flick-Parteispenden-Affäre hoch. Mit den hierzulande inflationär ausgerufenen Krisen ist es freilich so wie mit den selten ausbrechenden Revolutionen – irgend etwas stimmt an ihnen nicht.

Krise, welche Krise?

Was da als Krise düster beschworen wird, beruht zum Teil auf hartnäckigen Mißverständnissen. Das deutsche Bedürfnis nach politischer Stabilität war stets hypertroph und konnte pragmatische Maßstäbe von Ordnung und Freiheit bis heute nicht finden. Ganz ähnlich ist es um eine Haltung bestellt, die politische Moral als blanke zynische Machtpolitik entweder völlig negiert oder das (mitunter „schmutzige“) Geschäft der Politik als moralisches Hochamt idealisiert. Das bestimmt die Fallhöhe der Enttäuschung. Gerade so ging es mit dem von den westlichen Siegermächten lizenzierten „Parteienstaat“, undeutsch gesagt: der parlamentarischen Demokratie moderner Prägung. Was man bis in die sechziger Jahre hinein als „Inkorporation in das Staatsgefüge“ (Gerhard Leibholz) feierlich verklärte, wurde in den Niederungen der Parteienpolitik um so rascher zum Jammertal der Demokratieverzagten.

Sofern sich das derzeitige Krisengerede auf nennenswerte Probleme bezieht, heißt die schlichte Aufgabe: qualitative Verbesserung der Politik durch Verfeinerung demokratischer Spielregeln. Dazu bedarf es einer radikalen Reform des überkommenen Parteiensystems, vor allem aber der selbstkritischen Rücknahme der ohnehin abbröckelnden Parteienmacht. Für die einzelnen Organisationen läuft dies darauf hinaus, die parteiinterne Willensbildung zu reformieren, zum Beispiel durch Auflockerung der Fraktionsdisziplin. Beim Versuch, innovative Selbstheilungskräfte freizusetzen und nicht allein sitzfleischbegabte Politikverwalter hervorzubringen, ist der Phantasie der Parteien keine Grenze gesetzt.

Das Parteiensystem als solches braucht eine Radikalisierung, die volle formale Chancengleichheit herstellt. Etwa durch die Streichung (oder wenigstens drastische Herabsetzung) der Fünfprozentklausel. Sie dient dem Bestandsschutz der größeren Altparteien und durchbricht auf fragwürdige Weise das Verhältniswahlrecht. Konkurrenz und vor allem diese belebt das Geschäft der Parteipolitik! Darüber hinaus wäre die sonderbare Verfassungstreuepflicht, wie sie das Parteiverbot nach Art. 21 Abs. 2 GG begründet, auf herkömmliche Gefahrenabwehr zurückzustutzen. Allein gewaltsame Mittel, nicht schon „verfassungswidrige“ Ziele können den Ausschluß vom politischen Wettbewerb rechtfertigen.

Eine immanente Radikalisierung des Parteiensystems wird indes nicht genügen: sie muß mit einer externen Relativierung und Selbstbeschränkung einhergehen. Die bürokratisierten Apparate müssen für die freien Kräfte der direkten Demokratie politische Einflußsphären schaffen. Solche verfassungsrechtlich abgesicherten „Leerstellen“ der Parteipolitik sollten jedweder Art von Bürgerinitiativen eingeräumt werden. Damit diese sich bei Bedarf wirksam artikulieren können, brauchen sie gesicherte Beteiligungsformen wie Anhörungsrechte im Parlament, Akteneinsicht und dergleichen mehr.

Mehr Plebiszite

Bürgerbewegungen sind „als Träger freier gesellschaftlicher Gestaltung, Kritik und Kontrolle“ anerkannt, so Art. 35 des Entwurfs des Runden Tisches für eine DDR- Verfassung. Damit wurde eine zentrale Erfahrung der ostdeutschen Revolution, die wider alle gesamtdeutsche Parteienvernunft vom Zaun gebrochen wurde, formuliert: Innovationspotentiale wachsen eher an den Rändern der Gesellschaft als aus ihrer wohlorganisierten Mitte heraus. Wer das faktische Politikmonopol der Parteien bürgerfreundlich relativieren möchte, sollte außerdem Plebiszite im Grundgesetz verankern. So wird dem Parlament das Volk als gleichberechtigter Gesetzgeber zur Seite gestellt.

Was als Ergänzung der Parteipolitik sinnvoll ist, darf freilich nicht zu deren fundamentaler Alternative stilisiert werden. Authentische Formen der Demokratie sind ein unverzichtbares Element der Unruhe und können verkrustete Strukturen aufbrechen. Doch ob Räte oder Bürgerinitiativen – die Dynamisierung des Politischen gelingt nur in glücklichen Augenblicken, scheitert aber als „permanente Revolution“. Situationsbezogene Assoziationen können (und wollen) nicht jenen Grad an Verstetigung hervorbringen, der notwendig ist, um eine komplexe Gesellschaft zu regieren. Zu Parteienstaat und Parlamentarismus sind daher, aufs Ganze gesehen, keine Alternativen in Sicht. Auch nicht in Gestalt einer dereinst ausgerufenen „Antiparteien- Partei“.

Stets aufs neue Skandale

Beide Formen der Demokratie, die parlamentarisch-repräsentative und die ungefiltert-plebiszitäre, schließen einander nicht aus, sondern sind auf ihren jeweiligen Widerpart angewiesen. Die Korrektive des Parteienstaats fungieren nicht als „anti-, sondern als außerparlamentarische Opposition“, legt man Rudi Dutschkes Lesart der APO zugrunde. Ohne externe Impulse erstarrt das Parteiengefüge, ebenso wie außerparlamentarische Opposition ohne ihr parlamentarisches Pendant keine Bezugspunkte für unkonventionelle Einflußnahme fände.

Ist das konstitutionelle Verhältnis von Parteienstaat und Bürgerbeteiligung derart osmotisch bestimmt, darf der Rest getrost dem Einfallsreichtum und politischen Witz der Beteiligten überantwortet werden. Im Alltagsgeschäft, wo die kleinen und großen Konfliktstoffe auszuhandeln sind, entscheidet sich die Qualität von Politik. Ein reformiertes, radikalisiertes Parteiensystem, das überdies seine Poren nach „außen“ öffnet, bietet nicht nur parteiungebundenen Strömungen bessere politische Interventionschancen. Es schafft auch eine existentielle Voraussetzung für die eigene Lernfähigkeit.

Der Parteienstaat lebt gutteils von Skandalen, die er stets aufs neue hervorbringt. Sie erinnern uns, die wir seiner überdrüssig sind und doch auf seine geräuschlose Routine angewiesen bleiben, sehr verläßlich daran, daß es selten genügt, dann und wann ein Wahllokal aufzusuchen und sich im übrigen murrend regieren zu lassen.

Jurist und Autor, lebt in Hamburg (im März erschien „Parteiverbote und demokratische Republik“)