: Ansichten eines Frosches
■ Und wofür hat Pinter nun den „Prozeß“ umgeschrieben?
Kafka-Interpreten müssen viel leiden. Sie wollen etwas erklären, aber sie können nicht anders als sich genauso im Kreis zu drehen wie K. im „Schloß“ oder Josef K. im „Prozeß“. Sie wollen auf etwas deuten, aber dort, wo wenigstens die Möglichkeit von Sinn hingehört, ist – wenn überhaupt – das Nichts im kosmischen Sinne, das schwarze Loch, das alle Logik absorbiert. Frustriert erklären sie die Leerstelle zum unantastbaren Gestaltungsprinzip, an die kein Interpret rühren darf.
Dazu kommt jetzt noch die Vermutung, daß Kafkas Welt auch kommerzielles Potential besitzt. Können sich nicht in Wirklichkeit viel mehr Menschen in Josef K. wiederfinden als die paar, die Kafkas Bücher lesen? Leiden irgendwie nicht viele unter irgendwie diffusen Verlorenheits- und Isolationsgefühlen, die sie nicht genau in Worte fassen können?
Regisseur David Jones hat sich bei der Verfilmung so dicht wie möglich an die Literaturvorlage gehalten. Bis ins Detail setzt er Kafkas Szenenbeschreibungen und Dialoge in Bilder um und folgt der Chronologie des Romanverlaufs. Doch anders als Steven Soderberghs Kafka-Medley, das sich wenigstens einen autonomen Stellenwert als Kunstwerk geben konnte, ist „Der Prozeß“ kein künstlerisches Unterfangen, weil er überhaupt keine Position zum Original bezieht.
Als Josef K. verhaftet wird, sieht er am gegenüberliegenden Fenster immer wieder eine alte Frau, die das Geschehen „mit wahrhaft greisenhafter Neugierde“ beobachtet. Im Film klebt das Gesicht der Frau ebenso am Fenster wie man es sich als Leser vielleicht vorgestellt haben mag. Aber wo im Roman die Wahrnehmung von Josef K. die Außeneindrücke filtert und vereint, muß der Film zur Schnittechnik greifen. Damit wird die perspektivische Einheit automatisch gesprengt, und anstatt zu versuchen (wie es etwa Orson Welles in seiner „Prozeß“-Verfilmung von 1963 tat), die dramatische Entwicklung innerhalb ganzer Bilder umzusetzen, schneidet David Jones fast manisch zwischen verschiedenen Ansichten hin und her.
Die ständige Umsetzung von Gesprächssituationen in Schnitt/ Gegenschnitt-Form fragmentiert die Wirklichkeit, die sich gerade durch ihre Obsessivität und Unverständlichkeit, durch ihre völlige Übermacht und Absolutheit auszeichnen, in vielfältige, zersplitternde Ansichten. So wird die Einsamkeit von Josef K. zerlegt in ein Kaleidoskop von Einstellungen. Gleichzeitig verzichtet „Der Prozeß“ auf jede Stimme aus dem Off, subtrahiert alle erlebte Rede aus der Handlung und arbeitet dafür mit seinen eigenen Waffen der Suggestion: einer Kamera, die K. ein ums andere Mal aus der Froschperspektive zeigt, fast durchgängiger Musik zwischen Fanfare und Cellovibrato, vor allem aber der symbolischen Mimik von Hauptdarsteller Kyle Mac- Lachlan („Twin Peaks“), der so gar nicht in diese Rolle passen will. Doch vielleicht verkörpert der im Prag der zwanziger Jahre stets als Fremdkörper erkennbare Serien- Beau aus den Neunzigern auch eine besonders fein gewebte Ironie des Andersseins.
Wo aber soll eine „Prozeß“- Verfilmung auch ansetzen? Josef K. arbeitet sich jenseits aller Psychologie an einer Wirklichkeit ab, die von aller Kritik ausgenommen ist. Von Anfang bis Schluß nichts als das Prinzip des gleitenden Paradoxes: eine Verhaftung, die keine ist, weil er frei bleibt; ein Gesetz, das ihm nicht zugänglich ist; ein Prozeß, der umso bedrohlicher ist, je ferner er liegt, weil so keine Chance auf Freispruch besteht; Schuld, die das Gesetz erst erweckt; Vorgängen, die offenbar einer rein internen Logik gehorchen. Selbst die Räume verlieren in diesem gedanklichen Labyrinth ihre verläßliche Struktur und werden zu Variablen. So führt eine Tür auf dem Dachgeschoß eines Mietshauses statt in die Abstellkammer in einen riesigen Gerichtssaal. Allenfalls hier, auf dem Gebiet der Architektur und in den Ansichten von Prag ist Jones' „Prozeß“ bildlich produktiv.
Als zwei Gerichtsbedienstete Josef K. aus der Stadt hinaus in einen Steinbruch führen, um ihn zu exekutieren, wird vollends deutlich, woher der Film seine ästhetischen Vorbilder bezieht. Ein posender Kyle MacLachlan wirkt im Steinbruchpanorama mit entblößtem Oberkörper wie beim Werbeshooting für ein After- shave. „Mit brechenden Augen sah noch K., wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten.“ Bei Orson Welles hätte er sich wenigstens in die Luft sprengen dürfen. Hannes Klug
David Jones: „Der Prozeß“, Drehbuch: Harold Pinter. Mit Kyle MacLachlan, Anthony Hopkins u.a., GB 1992, 120 Min.
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