Richter im Schwangerschaftskonflikt

Nach sechsmonatigen Beratungen verkündet das Bundesverfassungsgericht in der Woche vor Pfingsten seine Entscheidung zur Neuregelung des § 218 / Der Ausgang ist ungewiß, doch viele rechnen mit dem Schlimmsten  ■ Von Dagmar Oberlies

Nachdem Awacs und Bundeswehr bisher ihre ganze Aufmerksamkeit beanspruchten, können sich die Karlsruher Verfassungsrichter plus Richterin nun endlich der bundeseinheitlichen Regelung des Abtreibungsrechts widmen. Entschieden wird über die Klagen von 249 Unionsabgeordneten und des Landes Bayern gegen die im letzten Sommer vom Bundestag mit großer Mehrheit verabschiedete Fristenregelung mit Beratungszwang. Entschieden wird aber auch über die seit 1990 anhängige Klage Bayerns gegen den in der BRD gültigen Paragraphen 218, die sogenannte Indikationsregelung, und über die Finanzierung von Schwangerschaftsabbrüchen durch die gesetzlichen Krankenkassen. Denn die bayerische Landesregierung hält nicht nur die soziale Indikation und die Fristenregelung für verfassungswidrig. In beiden Klagen moniert sie auch die Finanzierung von Abtreibungen durch die gesetzlichen Krankenkassen.

Fast niemand interessiert sich mehr für den Paragraphen 218 – außer denen, die nicht oder nicht mehr lange von ihm betroffen sind: Abtreibungsgegner, Lesben und einige Frauen über vierzig. Fristen- oder Indikationsregelung – das ist den meisten schnuppe. Die geltende Indikationsregelung ist ja – zumindest im Norden der Republik – eine „Fristenregelung“. Nicht zuletzt dank der Frauen, die das Entscheidungsrecht selbstverständlich für sich beanspruchen und nicht mehr akzeptieren, daß ihre Entscheidung nicht geachtet wird. Abtreibung ist zu haben. Das ist das wichtigste. Wenn der Maßstab politischen Handelns die persönliche Betroffenheit ist, dann, in der Tat, ist für die meisten Frauen das Schlimmste vorbei.

Mit der Indikationsregelung – auch mit ihrer Verschärfung – kann daher kaum mehr gedroht werden, denn wenn Abtreibungen nur noch mit sozial-psychiatrischen Indikationen möglich sein sollten, dann spielen Frauen eben verrückt. Auch eine Art von Unverwundbarkeit, wenn Frauen im Bereich der Abtreibung glauben, schon jede Schrecklichkeit hinter sich zu haben. Hinzu kommt der – auch unter Juristinnen – weitverbreitete Glaube: Das können sie nicht bringen, das trauen sie sich nicht! Aber dieser Gedanke versagt vor dem Bundesverfassungsgericht. Denn in der Abtreibungsdebatte sind die Richter die wahren Werte-Wahrer, die sich dem politischen Opportunismus entgegenstellen, die dem Zeitgeist widerstehen – geleitet weder von politischen noch pragmatischen Erwägungen, sondern allein vom Geist der Verfassung und vom Heiligen Geist.

Der Druck spornt sie zu Höchstleistungen an, zu wahrer innerer Unabhängigkeit. Sie folgen, in einer Zeit, wo kein Abgeordneter mehr ein Gewissen zu haben scheint, allein ihrem Gewissen. Wo Frauen versagen, richtet sich der Mann im Richter moralisch zu voller Größe auf. Im Bundesverfassungsgericht sind Väter im patriarchal-christlichen Sinne am Werk: Buddenbrocks. (Und natürlich ist auch ihr Niedergang besiegelt, aber noch wollen sie es nicht wahrhaben). Weil sie einen Glauben haben, den Glauben an sich, kann ihnen die politische Diskussion nichts anhaben. Im Gegenteil. Je mehr Sturm gesät wird, um so weniger wanken sie. Männer mit Überzeugung – die eine Frau eingeschlossen.

Wenn ich also hier und jetzt, ein Gerücht weiter- und wiedergebe, nämlich daß das Bundesverfassungsgericht die Abtreibung auf Krankenschein abschaffen und Abtreibungen in staatlichen Kliniken untersagen wird, dann bin ich gefaßt, daß keine es glauben kann, weil keine es glauben will. Aber dieser „Königsweg“ zeichnete sich ab, seit das Bundesverfassungsgericht die Gutachtenaufträge formulierte. Dort wurden den Sachverständigen Fragen vorgelegt, und das nicht zu knapp. „Welche Auswirkungen ergeben sich de lege lata für die verschiedenen Rechtsordnungen, wenn die Rechtsordnung Schwangerschaftsabbrüche rechtlich mißbilligt?“ Und weiter: Welche Möglichkeiten seien denkbar, um die rechtliche Mißbilligung außerhalb des Strafrechts in einzelnen Bereichen der Rechtsordnung zum Ausdruck zu bringen? Es geht also um die Mißbilligung dessen, was Frauen tun, und was Männer nie zu tun in die Lage kommen. Hier ist er wieder: Der strafende Vater christlicher Tradition. Ich will nicht lamentieren oder auf dem bißchen Recht beharren, welches das Bundesverfassungsgericht Frauen in seiner Entscheidung aus dem Jahr 1975 noch gelassen hat. Aber es soll doch noch mal erwähnt werden, daß dort die rechtliche Mißbilligung als Mittel gemeint war, um Schwangerschaftsabbrüche zu verhindern, nicht als Mißbilligung an sich.

In der Zeit hieß es noch vor den beiden Verhandlungstagen zum Paragraph 218 im Dezember in Karlsruhe: „Erörterungen, die neben der Sache liegen, lösen in dieser hochgestochenen Runde nur Lächeln aus.“ Alles gelogen! Sonst hätte das Gericht in der mündlichen Verhandlung aussehen müssen, wie ein Gruppenbild von Mona Lisas.

Trotzdem, glaube ich, nähren wir – immer noch – in uns eine Idee des Verfassungsgerichtes, weil wir seine alltägliche Banalität nicht ertragen könnten. Was sonst als übergeordneter Sachverstand, politische Unabhängigkeit und moralische Integrität könnte uns die bloße Vorstellung ertragen lassen, daß diese sieben Männer und diese eine Frau ein Parlament und ein Volk und uns außer Kraft setzen. Es ist der noch nicht ganz verlorengegangene Glaube an die Weisheit und Gerechtigkeit des christlichen Vaters. Wir haben den Glauben an die salomonische Gerechtigkeit der Väter noch nicht aufgegeben. Wir warten auf ihre Einsicht. Noch, so scheint es, sind wir nicht bereit, ihnen das Recht gänzlich abzusprechen, über das Leben der Töchter zu richten.

In der Verhandlung wurden keine rechtlichen Fragen gestellt. In der Verhandlung wurden überhaupt keine Fragen gestellt. Denn Fragen bedeutet, daß man Antworten sucht – nicht, daß man sie schon hat. Aber die Richter plus Richterin hatten ihre Antwort längst, und die lautete nein! Und noch mal nein!

Nichts scheint ihre vorgefaßte Meinung erschüttert zu haben, wenn sich die Gerüchte bewahrheiten. Die Verhandlungsgliederung war selbst schon eine implizite Antwort, auch wenn dort scheinbar Fragen aufgeworfen wurden. So interessierte das Gericht in welchem Maße von Verfassung wegen und bei der Zurücknahme des Strafrechtes ausgleichende, den Schwangerschaftsabbruch sanktionierende Regelungen in anderen Rechtsbereichen erforderlich seien. Und weiter hieß es:

„Ist es von Verfassung wegen geboten, die mit einer Indikationsfeststellung zu betrauenden Ärzte in staatlicher Verantwortung bestellen zu lassen?“

„Ist es verfassungsrechtlich geboten, eine Mitwirkungspflicht der Schwangeren an der Beratung gesetzlich zu statuieren?“

„Ist es verfassungsrechtlich geboten, die Beratungsstellen und die Berater einer Kontrolle zu unterwerfen, ob die verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Anforderungen an die Beratung beachtet werden? Ist es geboten, insoweit Sanktionen vorzusehen?“

„Muß von Verfassung wegen die mögliche Einbeziehung des Vaters und anderer Dritter in die Beratung sichergestellt werden?“

Die Beraterinnen – und zwar alle Beraterinnen, ob von Pro Familia oder Caritas – haben davor gewarnt, die „Lösung“ in materieller Unsicherheit und Verunsicherung zu suchen: dann nämlich diente die Beratung nur noch der Frage, woher das Geld für die Abtreibung kommt und wo die Abtreibung zu haben ist.

Aber sie wollen ja nicht hören. Sie wollen mißbilligen. Wer wüßte besser als feministische Anwältinnen, um die Gefahr, in der eigenen Arbeit die Probleme der Klientel zu spiegeln. Nun, das Bundesverfassungsgericht ist in einem Schwangerschaftskonflikt. Es bräuchte dringend Beratung. Bei Uneinsichtigkeit eben Zwangsberatung.

Jeder einzelne Richter, jede einzelne Richterin hat ihr höchstpersönliches Schwangerschaftsproblem – und ich kann aus eigener Anschauung versichern: es ist kein rechtliches! Da wird Schuld abgetragen: kollektive Schuld, nennen wir sie Erbsünde. Die Richter leisten Wiedergutmachung. Sie wollen für die Buße sorgen, wenn sie schon die Sünde nicht verhindern können. Das ist Mißbrauch: Rechtsmißbrauch. Endlich wäre das Wort einmal angebracht.

Die Anwältin Helga Wullweber hat recht, wenn sie meint: Eigentlich geht der Paragraph 218 die Frauen schon lange nichts mehr an. Frauen tun, was zu tun ist. Also richtet sich alle Kreativität dieser frauenfeindlichen Gesellschaft darauf, es ihnen bloß nicht leicht zu machen. Es hat sich ja nichts geändert: in der Abtreibung wird – wie früher – die sexuelle Lust der Frau bestraft. Sie soll für die Folgen ihres Tuns büßen. Die Abschaffung der Krankenkassenfinanzierung wäre nur die konsequente Form der Buße in einer kapitalistischen Gesellschaft. Ebenso wie das Verbot von Abbrüchen in staatlichen Kliniken die konsequente Fortsetzung der Privatisierungsbemühungen bei Post und Bahn ist.

Das Problem ist nur, daß das Verfassungsgericht ein persönliches Problem zu unser aller Problem macht. Es wird seiner Vorstellung über die Unzulässigkeit staatlicher Mitwirkung an Schwangerschaftsabbrüchen durch Krankenkassenfinanzierungen oder die Durchführung der Abbrüche in staatlichen Kliniken aus unserer Verfassung ableiten. Schon 1975 war es Auffassung des Gerichts, daß sich die Frau durch die Abtreibung an ihrer Natur versündigt. Schon 1975 schrieb das Gericht, daß kein Verfassungsrecht der Frau die Befugnis gebe, ein Leben zu zerstören, „wenn nach der Natur eine besondere Verantwortung gerade für dieses Leben besteht“, und daß es Frauen gebe, die die Schwangerschaft nur deshalb ablehnten, „weil sie nicht willens sind, den damit verbundenen Verzicht und die natürlichen mütterlichen Pflichten zu übernehmen“.

Die Natur der Frau als immanente Grundrechtsschranke. Der strenge Vater hat gesprochen. Es ist sein Recht. In der Tat: Es ist sein Recht. Männer sind in einer anderen Verfassung. Ihre Verfassung ist nicht meine Verfassung und kann – jedenfalls nach der 218-Entscheidung – wohl auch nie mehr meine Verfassung sein. Schluß mit dem Theater um eine neue Verfassung.

Es gibt keinen Verfassungskonsens – nicht zwischen Frauen und Männern. Schluß damit, daß auch wir so tun, als lebten wir in einem demokratischen System. Wir leben in einem System der Geschlechter- Apartheid. Benennen wir es als das, was es ist: ein Unrechtssystem. Wenn Frauen und Männer verschiedene Farben hätten, würden es alle sehen.

Die Mütter des Grundgesetzes wußten, was sie meinten, als sie die Gleichberechtigung im Grundgesetz verankerten. Die Väter wußten es auch, sonst hätten sie nicht soviel Widerstand geleistet. Und auch wir wissen, was gemeint ist – und SIE, diese männliche Machtelite, weiß es verdammt noch mal auch! Aber: SIE haben die Macht und dadurch – und nur dadurch – haben sie recht.

Wenn heute behauptet wird, Bevorzugung von Frauen dürfe nur ohne die Benachteiligung von Männern vonstatten gehen, dann vertrauen SIE nicht auf Recht, sondern auf Macht und darauf, daß diese IHNEN schon recht gibt. Bevorzugung von Frauen ohne die Benachteiligung von Männern ist denklogisch eine Null-Lösung. Nur Mächtige können es sich leisten, so wenig logisch zu denken: Sie müssen ja nicht durch Vernunft überzeugen. Sie müssen überhaupt nicht überzeugen. Sie müssen nur beharren.

In der Diskussion um die Alterssicherung von Ministern und Abgeordneten habe ich ein interessantes Argument gehört: Wenn wir Männer aus der Wirtschaft im Parlament und in der Regierung haben wollten, dann müßte ihnen eine attraktive Alterssicherung geboten werden – attraktiver als in der Wirtschaft. Daraus läßt sich schließen, daß diese Demokratie ihre Mittel an den Personen orientiert, die sie repräsentieren soll.

Natürlich läßt sich fragen, welche Mittel eingesetzt werden müßten, wollte sich das System (auch) von Frauen repräsentieren lassen. Da jedoch nichts unternommen wird, um Frauen – anders als Wirtschaftsmanager – in die Politik zu locken, dürfen wir wohl schließen, daß Frauen diese Demokratie nicht repräsentieren, sondern schmücken sollen.

So bleibt am Ende die bange Frage: Warum glauben wir eigentlich immer noch, daß das unser Staat ist, sein oder werden könnte, unsere Verfassung, unser Verfassungsgericht? Und die einzige Antwort, die ich uns geben kann: Weil wir wählen dürfen! Weil wir zwischen verschiedenen Männern wählen dürfen.

Die Autorin ist Juristin und Mitherausgeberin der feministischen Rechtszeitschrift „Streit“. Der Text entstand anläßlich des 19. feministischen Juristinnentages, der vom 7.–9. Mai 1993 in Frankfurt/Main stattfand.