■ Wenn es kein Geld zu verteilen gibt, gibt es keinen Spielraum für ökologische Politik / Eine Parteienkonstellation für eine reformorientierte Wende ist nicht in Sicht / Die Grünen sind demobilisiert
: Rot-grün in Bonn – eine Katastrophe

Was kann man von den Grünen heute erwarten? Kein Zweifel, wenn die Mehrheiten da sind, werden sie springen – wie jede Partei. Dafür brauchen sie keinen Rat. Erst wenn sie zu kurz springen, werden Politologen wieder gefragt: „Was waren die Ursachen?“ Die Reihenfolge läßt sich auch umdrehen: Werden vorher die Problemzonen und die Schwächen der Grünen benannt, die heute hinter der Kulisse diffuser aber hoher Erwartungen verschwinden, kann mit Konsequenzen noch begonnen werden. Die Lagebeurteilung läßt sich in zwei Sätzen zusammenfassen: Rot-grün (-gelb) in Bonn ist unzeitgemäß. Die Grünen auf Bundesebene sind nur begrenzt regierungsfähig. Was für die Grünen und das Land 1998 gut wäre, eine Mitregierung in Bonn, könnte für die Partei 1994 eher zu einem Desaster werden.

Die anstehenden Problemlagen

Die grün-spezifischen Themen stehen nicht auf der politischen Agenda und sind mit einer lavierenden SPD nicht auf die gesamtpolitische Tagesordnung zu setzen. Dagegen besteht Entscheidungsbedarf bei Fragen, in denen die Grünen weder über Kompetenzzuschreibung noch interne Klärung noch Resonanz verfügen. In der Ökonomie ist qualitative Korrektur nicht gefragt, und für ein beschleunigtes quantitatives Wachstum sind die Grünen weder kompetent noch motiviert. Verteilungspolitisch vertreten sie sozialdemokratische Gerechtigkeitsvorstellungen, nur ohne die Konzessionen, die Sozialdemokraten den Kapitalinteressen aus macht- und wachstumspolitischen Interessen machen; sie verfügen auch nicht über den sozialpolitischen Verpflichtungscharakter der Großparteien, der Verteilungsentscheidungen Akzeptanz verschafft.

Die aufgeblähte Form von „Sicherheitspolitik“, die von der Ausländer- und Asylpolitik über nationale und internationalisierte Kriminalitätsbekämpfung, über „großen Lauschangriff“ und „Grenzsicherungen“ bis zur Drogenpolitik reicht, ist nichts, wozu die Grünen aus Sicht der Großparteien irgendeinen positiven Beitrag leisten könnten; das Kurzfristig-Repressive wollen sie nicht bieten, das Langfristig-Inklusive ist nicht gefragt. Außenpolitisch sind die Grünen nicht nur wie die anderen Parteien auf der Suche nach Orientierungen in einer grundlegend veränderten Welt, vielmehr fehlt den Grünen der Konsens über einige Strukturen, von denen die Großparteien bei ihrer Neuorientierung ausgehen (z.B. EG, Nato, prinzipielle Legitimität staatlichen Gewalteinsatzes in internationalen Beziehungen).

Für diese wachstums-, verteilungs-, sicherheits- und außenpolitischen Fragen sind die Grünen von Kompetenz, Konsens und Motivation her ungeeignet. Sie schaffen nicht den Konsens und die Zustimmung zu gesamtgesellschaftlich getragenen Grundentscheidungen, ihre Chance liegt in der Korrektur und Gegensteuerung. Die intelligentere Form der Problembearbeitung bestände in der Verzahnung ökologischer, demokratischer, feministischer, zivilgesellschaftlicher Korrektive mit den Weichenstellungen selbst, dazu sind die Großparteien aber offensichtlich nicht in der Lage.

Parteienkonstellation

Die SPD hat mit ihrer Anpassung an die CDU/CSU-Asylpolitik das Doppelgesicht von Reform und Repression wiederbelebt, das auch in den 70er Jahren ihre Politik innerer Reformen – zwischen Mitbestimmung und Berufsverboten – charakterisierte. Es gibt keinen Weg der Reform an der SPD vorbei, Illusionen über das sozialdemokratische Koordinatensystem von Reformpolitik sind aber vermeidbar.

Eine erneute Wende der FDP wäre, analog zu 1967–69 aus der Opposition und 1980–82 aus der Regierung heraus, mit einer Reihe programmatischer, sozialstruktureller, interessenpolitischer Umbauten verbunden. Sie setzen ein strategisches Zentrum voraus, das auch in der Lage ist, die unvermeidbaren Konflikte und Kosten zu tragen. Eine solche Gruppe mit der Option für eine reformpolitische Wende ist heute nicht in Sicht.

Die Grünen würden 1994 zu einer offensiven Regierungspolitik nur schwer in der Lage sein. Der Nachweis bundespolitischer Regierungsfähigkeit wird sie in einem restriktiven Umfeld ängstlich machen. Das Erpressungspotential der SPD gegenüber den Grünen würde 1994/95 beträchtlich sein. Nicht nur wegen des Erfolgszwangs, unter dem die Grünen stehen, sondern vor allem deshalb, weil die SPD mit einer Alternative drohen kann: der großen Koalition mit der CDU.

Innere Verfassung der Grünen

Den Grünen ist es bis heute nicht gelungen, eine Bundespartei aufzubauen. Das bedeutet das Fehlen eines halbwegs integrierten, bundesweiten Machtzentrums. Sie starten 1994 ohne eingearbeitete, programmsichere Bundestagsfraktion. Die Gesamtpartei zeigt sich 1993 in einem demobilisierten, ausgebluteten Zustand. Die Personaldecke ist am Rande der Funktionsunfähigkeit: der Rückzug von Frauen, das Fernbleiben der Jugend, die Anforderungen aus Kommunen und Ländern. Die Diskussionspotentiale der Partei sind dramatisch geschwächt, teils als Folge ihres Verlustes an Vielfalt, teils aufgrund der Überlast. Sie sind inzwischen stärker in Stellvertreterpolitik als in „Party government“.

Nicht mehr die Basis ist ihr Problem, sondern die Partei. Die 90er Jahre könnten auch die Zeit einer zweiten Aufbauphase der Grünen sein: Mittelpartei, Partei postmoderner Vielfalt und professionelle Rahmenpartei sind dafür Stichworte. Mittelpartei bezeichnet den Versuch der Grünen, aus dem Ghetto der zehn Prozent auszubrechen, ohne den anpassenden und nivellierenden Wirkungen von Stimmenmaximierung zu erliegen, die für Großparteien unvermeidbar sind. Vergrößerung und Selbstbegrenzung, Zielkontinuität und Einflußverstärkung, solche Paradoxien sind nur durch ein groß angelegtes Öffnungsmanöver zu verfolgen. Die Vereinigung mit Bündnis 90, die Einbeziehung der Bürgerbewegungskultur ist ein erster Schritt in diese Richtung, wenn er nicht nur taktisch verstanden wird.

Öffnung, Erweiterung, „Wachstum“ sind ein qualitatives Projekt, das im Geist einer normativ gebundenen, progressiven Postmoderne verfolgt werden könnte. Legitime, beabsichtigte Pluralisierung und eine neue Freiheit zu kreativen Konstruktionen knüpfen an dem Vielfaltsprojekt wieder an, das die Grünen gegen Mitte der 80er Jahre zugunsten von Verengung, Polarisierung und Hegemoniekämpfen aufgegeben haben. Die Entwicklung von Regeln einer Verständigungsdemokratie, die nicht in Gegensatz gerät zu Profilbildung, und die Erprobung eines „Managements der Vielfalt“ (Streeck), das Effizienz nicht mit Stromlinienförmigkeit von ein oder zwei Strömungen verwechselt – hier wären Erkundungen notwendig, die gesamtgesellschaftliche Innovationen zutage fördern könnten. Ohne zu „verstaatlichen“, selektiert dieser Parteityp die positiven Staatsfunktionen und hält an der Notwendigkeit „intermediärer“, zwischen Gesellschaft und Staat vermittelnder Organisationen fest.

Keine gut organisierte Bescheidenheit, kein strammer Zwerg also. Sicherlich auch kein „ratloser Riese“ wie die Großparteien. Das Schaffen von Verhältnissen, in denen Solidarität, Vielfalt und Offenheit zusammenpassen, und in denen die Grünen in mehr als einer Hinsicht „etwas zu sagen haben“. Joachim Raschke

Politologe in Hamburg, Autor des Buchs „Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind“ (Bund-Verlag), das Anfang Juni erscheint