■ Tour d'Europe
: Ausgelaugt und ideenlos

Der Zusammenbruch des Kommunismus hat den europäischen Sozialdemokraten und Sozialisten keinen Zulauf gebracht. Im Gegenteil: „Als ob die feindlichen Brüder, die aus der Zweiten Internationale der Jaures, Kautsky, Plechanow und anderer Lenins hervorgegangen sind, aufgerufen wären, ein analoges Schicksal zu erleiden, zieht das Scheitern der Einen den Diskredit der Anderen hinter sich her“, analysierte kürzlich Le Monde. „Wenn es so käme“, so die französische Tageszeitung, „wäre die Geschichte ,ungerecht‘, denn die Sozialdemokraten waren in den 20er Jahren die ersten, die den sowjetischen Totalitarismus zurückgewiesen und sich geweigert haben, den Befehlen aus Moskau zu folgen.“ Am 23. März 1933 waren die deutschen Sozialdemokraten auch die einzige Partei, die – „im Namen der Werte des Sozialismus und der Freiheit“ – gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt haben. Alle übrigen Parteien gaben Hitler die Macht zur Abschaffung jeglicher Freiheit.

Auf der Plus-Seite der sozialistischen Idee ist noch eine ganze Menge mehr zu verzeichnen: Das Streben nach Brüderlichkeit, sozialer Gerechtigkeit, nach einem erfüllten Leben in einer besseren Gesellschaft hat sich in allen westeuropäischen Ländern in einer Reihe von Gesetzen niedergeschlagen, die heute nicht mehr wegzudenken sind. Deshalb nahm im französischen Wahlkampf den Präsidenten auch keiner so recht ernst, als er sich gegenüber den siegreichen Konservativen zum Verteidiger der „sozialen Errungenschaften“ erklärte – die Rechte will weder an der Rente noch an der Sozialhilfe rütteln. Die traditionelle Zuordnung links gleich progressiv und rechts gleich konservativ ist längst überholt, weshalb der französische Soziologe Alain Touraine Sozialismus heute als „reaktionären“ Begriff beerdigen möchte.

Während die Sozialdemokratie im Westen also als ausgelaugt und ideenlos erscheint, erinnert sie die BürgerInnen im Osten zu sehr an den Kommunismus. Dabei gab es vor allem in Ungarn und Polen vor dem Krieg echte sozialdemokratische Parteien, die später von den moskauhörigen Kommunisten liquidiert wurden. Dieses Schicksal bringt ihnen heute jedoch keinen Zulauf. So kamen die ungarischen Sozialdemokraten bei den ersten freien Wahlen 1990 trotz Unterstützung aus dem Westen nur auf vier Prozent der Stimmen. Auch die tschechischen und slowakischen Sozialdemokraten haben keinen Erfolg. Einzig die litauischen Sozialisten unter Führung des früheren Kommunisten Algirdas Brazauskas bilden eine Ausnahme: Sie gewannen im Herbst die Wahlen.bk