Alexandrien versus Babylon

Sarajevo – eine urbanistische Utopie und die regressiven Phantasien eines bosnischen Psychiaters  ■ Von Bogdan Bogdanović

Mit Kälte, mit Liebe und mit Hoffnung sprachen wir (eine Gruppe von Belgrader Intellektuellen, die die französische Regierung nach Paris eingeladen hatte, A.d.R.) über Sarajevo. Unser größtes Problem dabei war: Was tun? Wie und wo beginnen? Wie sind die ersten hundert Meter zu schaffen? Unsere Unentschlossenheit ist mit der Nachdenklichkeit eines Reservekapitäns vergleichbar. Diese Metapher dient als Folie des Szenarios, das ich nun vor Ihnen aufrollen möchte.

Als erstes müßte die belagerte und gequälte Stadt durch eine überraschende und effiziente Aktion internationaler Kräfte befreit werden. Danach könnte ein vorläufiger bosnischer Stadtstaat errichtet werden, der sofort unter internationales Recht gestellt werden müßte. Das weitere Schicksal Sarajevos würde sich von selbst ergeben. Schon minimale Ansätze zur Rekonstruktion ihrer Physis würde es der Stadt ermöglichen, aus dem Stadium einer „zum Tode Verurteilten“ ins Leben zurückzukehren, und gleichzeitig den Anfang ihrer psychischen Genesung bedeuten. Auf einem kleinen, aber nicht unbedeutenden Sektor eines erkrankten osteuropäischen Raumes würden so erneut städtische Kulturnormen, Glaubensfreiheit und nationale Toleranz erwachen.

Die Stadt mit der unleugbar längsten Tradition des Zusammenlebens unterschiedlicher Ethnien in diesem Teil der Welt hat das Recht auf eine besondere Rolle: sie könnte ein Vorbild sein. Denn wenn der künftige Frieden nicht städtisch, keine pax urbana ist, bleibt er trügerisch, ein Frieden des „Blut und Bodens“ ...

In späteren Gesprächen mit unseren französischen Gastgebern haben wir über ein freies Sarajevo gesprochen und hatten ein osteuropäisches, ja europäisches neues Alexandrien vor Augen. Immer wieder drängte sich uns das Bild dieser grandiosen Stadt auf. Genauer gesagt dachten wir dabei an die geistige Schönheit Sarajevos. Unsere Gesprächspartner verklärten Sarajevo gelegentlich zu einer idealen Stadt im unübersichtlichen Dreck dieses Krieges, einer gesunden Stadt, die noch nicht vom Virus des Nationalismus infiziert wurde. Sie stellten sich Sarajevo als städtischen Fluchtort vieler verfolgter und geflohener, verletzter und weggeekelter Menschen vor. Diejenigen, die noch immer denken können und aus Trotz geblieben sind, erscheinen heute als altmodische Intellektuelle. Das neue Alexandrien wäre ihr eigentlicher Ort. Ihr Wort wäre dort von Gewicht, weil es sich noch nicht vom göttlichen Recht auf den Sinn losgesagt hat.

Wir erinnerten unsere Gastgeber daran, daß der Staat Bosnien in der Geschichte Europas einst ein refugium haereticorum war, ein Zufluchtsort religiöser Nonkonformisten. Aus dem Osten wurden sie vom großen Herrscher Stefan Nemanja vertrieben und ihrer Sprache beraubt. Aus dem Westen kamen später, vor allem aus Italien, die unterdrückten Patarener (Bogumilen) und Katharer. Auch aus diesem Grunde verband sich in unserem assoziativen Spiel Sarajevo mit Alexandrien.

Um nicht in Träumereien hängenzubleiben und unseren Visionen mehr Realität zu verleihen, erinnerten wir daran, daß das „neue Alexandrien“ seiner Rolle nicht ohne ein funktionierendes, kompetentes und wahrheitsliebendes Fernsehen gerecht werden kann, das das ganze Gebiet des ehemaligen Jugoslawien abdecken müßte.

Denn eine pax urbana kann auf keinen Fall ohne eine gründliche „Entnationalisierung“ erreicht und eingehalten werden, setzt also eine „Umerziehung“ voraus. Und da sind wir schon wieder beim Fernsehen. Selbst wenn dieser schmutzige Krieg mit diplomatischen und politischen Mitteln irgendwie befriedet und vertuscht wird, wird er in den Köpfen der Menschen weiterschwelen, bis er wieder neu entflammt.

Unsere französischen Freunde interessierte, ob wenigstens wir selbst irgendeine Ahnung hätten, woher die antistädtischen Impulse kommen, die eine wesentliche Triebfeder dieses Krieges sind. Wir mußten uns bei diesem offiziellen Besuch sehr zurückhalten, die Sachverhalte nicht zu einfach und zu bildlich darzustellen. Hier und jetzt gibt es keine Gründe, diejenigen zu schützen, die man nicht schützen sollte. Wir kennen den Typ des Zerstörers doch sehr genau, frontal und im Profil, sozusagen: Seine Erscheinung ist roh, gewalttätig und ohne Moral. Diese typische Blut-und-Boden-Spezies, sie würde alle Städte dieser Welt zerstören, nur um die Grenzen ein wenig zu verschieben und neue Umrisse zu ziehen.

Es ist kein Geheimnis, daß auch die Intellektuellen die Vernichtung urbaner Codes mitgetragen haben und dadurch letztlich zur Zerstörung der Städte beitrugen. Wir wissen, daß so mancher Intellektuelle einer Liebe zum Boden frönt und er darum, fürchte ich, auch dem „Blut“ nicht abgeneigt ist ... Haben Sie bemerkt, daß sich bei einem von uns hochverehrten Schriftsteller selbst der Liebesakt immer in irgendeiner Erdfurche abspielt? Welch unterirdischer Gruß der Erdgötter und der Fruchtbarkeit, welch erheiternde Figur literarischer Erotik!

Hält man sich an die Oberfläche der Symbole, dann mag es naheliegen, das Ritual der Befruchtung dem Ritual der Zerstörung entgegenzusetzen. Doch im Gegensatz zu dieser formalen Auffassung ergänzen sich in unserem Fall beide Rituale perfekt. Ob der „ethnische Krieg“ vor allem anderen ein „Krieg der Erde“ ist und so als Ausrede, sogar als Alibi für die Zerstörung der Städte dient, oder ob die Zerstörung der Städte nur eine zynische Technologie der „ethnischen Säuberung“ ist: das ist fast egal, jedenfalls, was die Folgen angeht.

Auch die Belagerung Sarajevos und die Rechtfertigungsrhetorik Karadžićs zeigt: Die Angriffe auf Sarajevo haben nicht nur das Ziel, die Stadt zu zerstören, sondern auch die „Stadt in ihr“ zu zerstören und sie für ihren ehemaligen Geist der Toleranz und des Kosmopolitismus zu bestrafen. Mit der Zerstörung soll sie „wiedergeboren“ und ethnisch gesäubert werden. Karadžić schlägt vor, Sarajevo nach ethnischen Kriterien aufzuteilen. In diesem Augenblick verursacht er durch Blutvergießen unbeschreibliches Elend in der Zivilbevölkerung und versucht, sie mit Gewalt zusammenzutreiben, zu bündeln und die unterschiedlichen Ethnien zu umzäunen ... Schön, schöner kann es gar nicht sein ... So steigt der Mensch aus den Bergen in die Stadt, als „Satyr oder Wilder“, und bleibt stehen, um die Stadt auszumessen, abzugrenzen, zu umzäunen, zu zersägen – als ob er sie geerbt hätte. Und das alles in unserem Namen, in meinem Namen und auch in eurem, auf Rechnung Belgrads und der serbischen Nation.

Sieht denn Dobrica Ćosić, – Karadžićs Schirmherr und Anstifter – nicht, daß er zum Gespött der ganzen Welt wird? Sieht er nicht, daß durch die sinnlose Zerstörung Sarajevos nur noch eine dunkle „serbische Formel“ in der Geschichte der gegenwärtigen Zivilisation übrigbleibt? Ob diese Rhapsodie der Zerstückelung vielleicht auch Ćosićs persönliche Abrechnung mit der Stadt, der städtischen Mitte, mit ihren Bürgern und mit dem städtischen Verkehr überdeckt? Es schaudert mich, wenn ich daran denke ...

Schauder überfällt mich ebenfalls, wenn ich mich an die Rituale von Rache und Okkupation fremden Territoriums (in der Urbanistik wird das mit „gründenden“ Ritualen gleichgesetzt) erinnere, die sich bereits im letzten Frühling in Sarajevo abgespielt haben. Auf den Barrikaden standen die Opferpriester der künftig „ethnisch gesäuberten“ Stadt. Sie trugen – wahrscheinlich als höchstes Zeichen erzpriesterlicher Würde – Strumpfmasken über den Gesichtern. Das Spiel wirkte anfänglich naiv, die Mauern waren nur symbolisch und unsichtbar. Deshalb waren sie zunächst unangreifbar, jedes unbefugte Überschreiten der gezogenen Linien bezahlte man auf der Stelle mit dem Leben.

Heute sind die Mauern schon etwas sichtbarer – sie sind Feuergardinen. Eines Tages, wenn der höchste Opferpriester die Stadt wirklich nach seinem Willen aufteilt, werden aus der Erde echte, massive Betonwände wachsen. Mit Wachtürmen, Beobachtungsposten und Reflektoren, elektrischen Zäunen neben Videokameras und mit anderen spontanen Einfällen, bekannt aus den besten Tagen der Berliner Mauer. Nur würden in Sarajevo anstelle einer Berliner Mauer mindestens fünf bis sechs Mauern stehen.

Abgesehen von den unumgänglichen technischen Details, die die Paranoia bei der Aufteilung der Stadt erzwingen würde, könnte man diesen ungeheuerlichen Plan als ein weiteres Produkt einer sehr morbiden urbanistischen Regression interpretieren. Ironischerweise handelt es sich aber um die Phantasien eines Psychiaters (Radovan Karadžić, A.d.R.), die einer längst vergessenen Welt angehören. Ein sehr archaisches Bild, aus der Zeit orientaler Despoten, als noch nicht einmal die griechische Polis auf der Bildfläche erschienen war, erst recht nicht Alexandrien. Anstelle eines neuen Alexandrien bietet uns der Psychiater das alte Babylon an. Anstelle einer Stadt des „noblen Synkretismus“, in der sich Kulturen, Religionen und selbst verschiedene Sprachen begegnen und bei jedem Schritt durchweben, präsentiert er uns das Bild einer Stadt, die durch Mauern in isolierte Viertel aufgeteilt werden soll – wie das antike Babylon, das die Menschen nach Ethnien, Sprachen, Kulturen und Hautfarbe trennte ...

Um weiter zu verdeutlichen, wie das unglücklich-babylonische Sarajevo aussehen würde, werde ich mich auf Pierre Loti berufen. Ich lade Sie ein, eine einzige Nacht lang Karadžićs Sarajevo mitzuerleben ... Bevor Loti Isfahan, eine altertümliche Stadt im damaligen Persien, verließ, wünschte er sich noch einen letzten nächtlichen Spaziergang durch die Stadt. Dafür brauchte er die Erlaubnis des Prinzen. Er bekam die Genehmigung und zusätzlich eine bewaffnete Eskorte. Bei Einbruch der Dämmerung wurden die quietschenden

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Stadtteiltore zugeschlagen, und die umzäunten, im wahrsten Sinn des Wortes „gefangenen“ Stadtviertel tauchten in die Stille und Dunkelheit der Nacht ein. Ihre bis an die Zähne bewaffneten Wächter schlichen in geräuschlosen Schuhen um die Mauern.

Obwohl Loti die Erlaubnis von höchster Stelle und äußerst beeindruckende Begleiter hatte, verbrachte er die ganze Nacht damit, von einem Tor zum nächsten zu wandern und um Einlaß zu bitten. Die Wachen hatten Angst, redeten sich heraus und erklärten sich erst nach Drohungen und Peitschenhieben auf die verriegelten Pforten dazu bereit, sie einen Spalt breit zu öffnen ... Im Prinzip war jeder auf der anderen Seite der Mauer ein potentieller Mörder ...

Ich glaube, daß sich unsere Gastgeber freuten, als sie begriffen, daß uns Loti bei der Interpretation der urban-politischen Gedankenspiele eines gestörten Psychiaters geholfen hat. Was sie allerdings nicht verstanden, ist der Ursprung der vielen regressiven „Orientalismen“ in den Träumen eines anerkannten Kämpfers gegen die Türken und islamisierten Christen. Sie konnten sie nicht verstehen, und wir konnten sie nicht erklären.

Die Phantasie, oder besser: das archaische Durcheinander des Dr. Radovan Karadžić erinnert an die „Orientalismen“ psychotischer Maler. Genau wie diese entnimmt er seine Bilder einer phantomhaften Erinnerung.

Ich bezweifle, daß er jemals den Plan Babylons und seiner inneren Mauern gesehen hat. Aber genau wie seine Patienten zeichnet er ohne Bedenken existierende – aufgemachte, weit geöffnete – Tore und reale Mauern toter Städte, blutbeschmierte babylonische Türme. Vor den urban-politischen Fresken seines Sarajevos, zerstückelt und zwischen den Mauern begraben, verspüren wir dieselbe Art von Unbehagen wie vor den Bildern kranker Schöpfer verlorener Welten.

Auch die Mitglieder des „Belgrader Kreises“ werden vielleicht nicht imstande sein, die Entstehung eines neuen alexandrinischen Sarajevos zu vermitteln. Vielleicht ist dieses Bild wirklich nur eine seltsame utopische Skizze. Aber es würde Sarajevo sehr helfen, wenn, solange es rechtzeitig geschieht, den finsteren Ideen von der Zerstückelung einer lebendigen Stadt und ihrer Umwandlung in eine babylonische Grabstätte Einhalt geboten würde.

Der Autor ist Architekt, Architekturprofessor und Autor einer Reihe von Veröffentlichungen zur Architektur der Stadt. Im Wieser Verlag ist kürzlich seine Essaysammlung „Die Stadt und der Tod“ erschienen. Bogdanović ist Mitbegründer des „Belgrader Kreises“, zu dem sich vor einem Jahr unabhängige serbische Intellektuelle zusammengeschlossen haben. Der vorliegende (bisher unveröffentlichte) Text war Bogdanovićs Beitrag auf einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung des „Belgrader Kreises“ am 27.März dieses Jahres.

Übersetzung aus dem Serbischen: Olivera Stevanović