Fatal Attraction im Adelsnest

Urs Schaub inszenierte Turgenjews „Ein Monat auf dem Lande“  ■ Von Peter Münder

Auch wer zu früh kommt, wird gelegentlich bestraft: Ivan Turgenjew (1818–83) hatte schon lange vor Arthur Schnitzler und Anton Tschechow das Seelenleben seiner meist müßiggängerischen, aristokratischen Bühnenfiguren in den Mittelpunkt gestellt und den damit überforderten Kritikern und Zuschauern suggeriert, es gebe eigentlich keine „echte“ Handlung mehr. Seine Stücke, die obendrein meistens von der zaristischen Zensur verboten wurden, galten daher lange als unspielbar, als reine Lesedramen.

„Ein Monat auf dem Lande“, um 1850 in Paris geschrieben, erlebte zwanzig Jahre später seine eher klägliche Uraufführung in Moskau. Erst Stanislawski, der mit seiner Methode der meditativen Verinnerlichung und emotionalen Rückbesinnung für eine Bühnenrevolution sorgte, erkannte den wahren Wert des Stücks. Er verschwand während der Proben mit seiner Truppe tatsächlich für einen Monat auf dem Lande, um sich in totaler Isolation auf diesen dramatischen Härtetest konzentrieren zu können. Es wurde 1909 am Moskauer Künstlertheater ein triumphaler Erfolg.

In Darmstadt hat es nun Regisseur Urs Schaub gewagt, diesen selten gespielten Fünfakter wieder für die Bühne zu entdecken. Das Experiment gelang, obwohl ihm mit dem jungen Ulrich Hub, der als Student Beljajew bei zwei Frauen für emotionale Verwirrung sorgt, keine ideale Besetzung zur Verfügung stand.

Den Monat auf dem Lande verbringt die Familie Islajew in ihrem „Adelsnest“, einem dieser großzügigen Sommerhäuser, in dem Hauslehrer, Hausfreunde und Haustiere reichlich Platz haben. Die Sehnsucht nach einem Schluck „frischen Wasser“, von der die junge, frustrierte Natalja Petrowna (grandios als kapriziöse Diva vom Lande: Christina Rubruck) erfaßt wird, sie beherrscht eigentlich alle Figuren. Doch nur die gelangweilte Hausherrin, die ihren gutmütigen, aber einfältig-langweiligen Ehemann Arkadi (Klaus Ziemann gibt ihn als schrulligen Teddybär) wie ein verstaubtes Möbelstück behandelt, will sich tatsächlich auf eine Liebesbeziehung mit dem ahnungslosen Studenten Beljaev einlassen.

Die Sommergäste, die hier ihre Zeit mit Kartenspielen, Tändeleien und Klatsch totschlagen, sie alle leiden natürlich, wie Gorkis „Sommergäste“ und Tschechows Figuren, an der russischen Krankheit: Mit gepflegter Konversation wird der Frust über die eigene Paralyse überspielt. Man will zwar raus aus dem parasitären Trott, doch woher die Energie nehmen, um sich dazu aufzuraffen? Schlafmütze Oblomow läßt grüßen...

Mit dem wunderbaren Bühnenbild des ersten Aktes, einem riesigen Breitwand-Salon, an dessen Rückwand eine überlange Couch vor verhängten Fenstern steht, gelingt es Florian Parbs, diesen für Turgenjew typischen Eindruck gepflegter Dekadenz und stickiger Treibhaus-Schwüle zu vermitteln. Leider wirken aber die Gartenszenen mit der billigen SperrmüllBotanik und den kitschigen Trabi-Farben doch ziemlich irritierend.

„Die fremde Seele ist ein dunkler Wald“, meint der gebildete Hausfreund Rakitin (Hubert Schlemmer), der es der gereizten, anspruchsvollen Natalja nie recht machen kann. – Gut, Schnitzler war da schon weiter, er verstand auch die eigene Seele als „weites Land“. Doch Turgenjew hat hier immerhin schon die Handlung ins Innere verlegt, innere Monologe entwickelt und die Dialoge auf ihren versteckten Subtext hin abgeklopft.

In einer kurzen, aber fabelhaft gelungenen Szene hat Regisseur Urs Schaub den subtilen Psychoterror der Mutter-Sohn-Beziehung glänzend und äußerst bühnenwirksam als Double-Bind-Konflikt vorgeführt: Da jammert und zetert die alte Mutter Islajews (Sonja Mustoff), da bedrängt und bedroht sie ihren gutmütigen Sohn, er solle endlich ein Machtwort sprechen und die Affäre seiner Frau beenden; sicher, sie will sich ja nicht einmischen, aber... Selten sah man eine so drastisch komische, plausible Illustration zum Thema „überprotektive Mutter“. Und das war bestimmt im Sinne des Autors von „Väter und Söhne“, der ja selbst zeitlebens unter seiner unberechenbaren, zum Psychoterror neigenden Mutter litt.

Der glänzenden, auch mit subtilsten Gesten Raum und Akteure beherrschenden Christina Rubruck, dieser überzeugenden Natalja Petrowna, ist leider der bloße, ohne jede Aura behaftete Ulrich Hub an die Seite gestellt, der doch als unwiderstehlicher Herzensbrecher Beljajew dieses Adelsnest voll gelangweilter Müßiggänger durcheinanderwirbeln soll. Er wirkt hier, trotz einiger naiv-unbeholfener, hübscher Auftritte, allerdings völlig überfordert.

Zum Erfolg der Inszenierung trägt dafür umso mehr Rolf Idler als Arzt Spigelski bei, der seine Figur zwischen leichtfertiger Boheme-Natur und unbestechlichem Analytiker („Wenn Sie wüßten, wie ich mir selbst auf die Nerven gehe“) ansiedelt. Und dann ist da die blutjunge Naomi Krauss, die als haltlose, von der Hausherrin abhängige Pflegetochter Veroschka versucht, ihren Weg in die Emanzipation zu finden. Schließlich, als sie keinen anderen Ausweg mehr weiß, wirft sie sich dem tumben Nachbarn Bolschinkow (Hans-Walter Klein) an den dicken Hals. Sie kann diese Metamorphose von der kindlich-schlaksigen Unschuld vom Lande zur jungen Frau, die ihren Weg ins Verderben geht, wirklich herzerschütternd vorführen.

Nein, hier gibt es keinen dramatischen Selbstmordversuch wie in Tschechows „Möwe“, auch keinen bühnenwirksamen „Kirschgarten“-Kahlschlag. Trotzdem eine eindrucksvolle, fast vierstündige Inszenierung, die beweist, wie faszinierend und heimtückisch so eine „Fatal Attraction“ im Adelsnest sein kann.

„Ein Monat auf dem Lande“. Regie: Urs Schaub, Bühnenbild und Kostüme: Florian Pabs; mit Christine Rubruck, Ulrich Hub, Rolf Idler, Hubert Schlemmer und Naomi Krauss, Staatstheater Darmstadt; weitere Aufführungen: 19. und 30.Mai