„Leben als Strafobjekt“

Eine Tagung des „Komitees für Grundrechte und Demokratie“ in Bonn zum Thema „lebenslängliche Freiheitsstrafe“  ■ Aus Bonn Julia Albrecht

„Wer für ein ,Leben ohne lebenslänglich‘ eintritt, muß darauf verzichten, sich durchsetzen zu wollen. Er muß bitten, werben, zu gewinnen suchen. Er tritt gegen eine jahrtausendealte Tradition des Strafens an, die im größten Teil der Welt noch heute den Tod als Strafe verhängt.“ Diese Worte des Gerichtsreporters Gerhard Mauz aus dem Jahr 1988 könnten wohl alle Teilnehmer und Veranstalter der dreitägigen Tagung zum Thema „Lebenslange Freiheitsstrafe, ihr geltendes Konzept, ihre Praxis, ihre Begründung“ unterschreiben. „Die Todesstrafe ist abgeschafft“, heißt es in Artikel 102 des Grundgesetzes. Die Formulierung: „Die Todesstrafe und die lebenslange Freiheitsstrafe sind abgeschafft“, lautet das erklärte Ziel der Veranstalter des „Komitees für Grundrechte und Demokratie“. Es liegt noch in weiter Ferne. Aber gibt es die lebenslange Freiheitsstrafe überhaupt noch? Hören wir nicht immer wieder, daß „lebenslänglich“ bei uns nur 15 Jahre sind? „Die lebenslange Freiheitsstrafe für Mord ist mit dem Grundgesetz vereinbar“, heißt es in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVG) aus dem Jahr 1977. Allerdings nur dann, wenn der Betreffende die Möglichkeit hat, „je wieder der Freiheit teilhaftig zu werden“. Diese Möglichkeit sollte – so die Forderung des BVGs – gesetzlich geregelt werden, da die Gnadenpraxis allein nicht ausreiche. Die Hoffnungen, die sich dann auf den 1982 eingeführten 57a des Strafgesetzbuches (StGB) richteten, wonach nach einer Mindestverbüßungszeit von 15 Jahren die Haft nur dann fortzusetzen ist, wenn die besondere Schwere der Schuld dies gebiete, wurden enttäuscht. „Von den 20 Lebenslänglichen, auf die in der JVA Bruchsal bis Mai 1992 der 57a angewendet wurde, wurde keiner nach 15 Jahren entlassen bzw. wurde bei keinem die besondere Schwere der Schuld verneint. Was die Regel sein sollte, wurde nicht einmal die Ausnahme“, referiert Harald Preusker, Leiter der Justizvollzugsanstalt Bruchsal.

Darüber hinaus hat sich die Praxis des Begnadigungsrechts drastisch verschlechtert. War es vor der gesetzlichen Neuregelung noch möglich, auch lange vor Verbüßung von 15 Jahren begnadigt zu werden, haben sich die Gnadenträger jetzt fast vollkommen zurückgezogen. Zusätzlich hat die Zahl der lebenslangen Verurteilungen seit 1982 zugenommen, weil die Gerichte anscheinend – in dem irrtümlichen Glauben, daß der Verurteilte nach 15 Jahren freikommt – eine niedrige Hemmschwelle haben, die Höchstrafe zu vergeben.

Den Schritt, die Vorschrift des Mörderparagraphen für verfassungswidrig zu erachten, hat das BVG nicht getan. Im Unterschied zu allen anderen Strafnormen ist nicht die Tat, sondern der Täter Anknüpfungspunkt für die Bestrafung. Dem wegen Mordes Verurteilten wird bestätigt, daß er aus niedrigster Gesinnung getötet hat.

Das BVG hält den lebenslangen Freiheitsentzug mit der Würde des Menschen für vereinbar. Waren seine Richter einmal in einem Gefängnis, nur wenige Tage vielleicht? Kennen sie aus eigenem Erleben den vollkommenen Entzug der Freiheit? „Der Gefangene lebt, doch es ist nur noch ein Leben zur Strafe. Der Gefangene lebt, doch nur, um sein Leben als Strafobjekt, als Objekt der Übelszufügung zu dienen.“ Diese Worte stammen aus dem Text eines „Lebenslänglichen“, die verlesen wurden, weil er, obwohl bereits 13 Jahre hinter Gittern und „ausführungsberechtigt“, nicht kommen durfte. Um diesem Leben als „Objekt“ ein Ende zu bereiten, hatte er für den Erhalt eines toxischen Präparates bis zum BVG geklagt. Ablehnungsgrund: Die staatliche Schutzpflicht „gebietet dem Staat, sich schützend und fördernd vor das Leben zu stellen und es vor Eingriffen zu bewahren“.

Aber zurück zu der sogenannten „Schuldschwereklausel“ des 57a StGB. Nur wer besonders schwere Schuld auf sich geladen hat, soll länger als 15 Jahre inhaftiert werden. Wie bemißt sich das, wie läßt sich Schuld umrechnen in Jahre? „Der Mensch, der schießt, ist ebenso unschuldig wie der Kessel, der explodiert, die Eisenbahnschiene, die sich verbiegt, der Blitz der einschlägt, die Lawine, die verschüttet. Alles tötet den Menschen. Auch der Mensch tötet den Menschen. Um sich gegen den Menschen zu schützen, erfand der Mensch das Strafgesetzbuch.“ Das ist die Antwort des Gerichtsreporters Sling, Paul Schlesinger, aus den zwanziger Jahren.

Nichts scheint naheliegender, als sich endlich zu verabschieden von der Vorstellung, wir wüßten, was Schuld ist, wie sie rechtlich zu beurteilen sei. Aber das BVG hält nach wie vor eisern daran fest. In seiner neuesten Entscheidung von 1992, bei der die Verfassungsmäßigkeit des 57a StGB zur Frage stand, versucht es lediglich, die geltende Umsetzung des Paragraphen 57a handhabbar zu machen. Es hält fest an der Schuldschwereklausel, gebietet aber nun, daß die erkennenden Gerichte die Schuld „gewichten“ und dann in Jahren ausdrücken sollen. Was bisher verschiedenen Stellen, unter anderem auch den Justizvollzugsanstalten oblag, soll nun das verurteilende Gericht machen. Ein Gewinn?

Richter und Verurteilte, Justizbeamte und Rechtstheoretiker meinen fast einstimmig, daß die neue Regelung nur zusätzliche Verwirrung gestiftet hat, daß sie keine Verbesserung auf dem Wege der Abschaffung darstellt. „Jetzt gibt es nicht mehr nur eine Schuld, sondern zwei. Einerseits die wegen des festgestellten Mordes, zum anderen die der Schuldschwerde“, so faßt es Hartmut Weber, Professor für Kriminologie, zusammen.

Auf das BVG läßt sich in absehbarer Zeit nicht hoffen. Und auf die Politiker? Erwin Marschewsky, Obmann der CDU/CSU im Rechtsausschuß des Bundestages, meinte 1988: „Würde man von der Strafandrohung für Mord absehen, so hätte dies eine bedenkliche Verminderung der Abschreckungswirkung zur Folge, was wiederum notwendigerweise zu einer Beeinträchtigung des Rechts- und Sicherheitsgefühls der Bürger führen würde.“ Tatsächlich? Tötet ein Mensch einen Menschen dann, wenn er dafür nur fünf Jahre ins Gefängnis muß, dann aber nicht, wenn er auf unbestimmbare Zeit hinter Gitter muß? Wartet derjenige, der heute in die Konfliktsituation kommt, einen Menschen zu töten, auf übermorgen, wenn sich die Gesetze tatsächlich geändert haben sollten? Wurde je ein Mord verhindert wegen der bestehenden Strafandrohung?

Wenn Strafe für den Täter erwiesenermaßen nicht förderlich ist und ihre Androhung Straftaten nicht verhindern kann, bleibt das Argument der „positiven Generalprävention“, verstanden als die Erhaltung und Stärkung des Vertrauens in die Bestands- und Durchsetzungskraft der Rechtsordnung. Dazu der Passauer Strafrechtsprofessor Bernhard Haffke: „Die Generalpräventionstheorie wird häufig als Theorie der Härte und Grausamkeit mißverstanden. Genau das Gegenteil ist der Fall. Gerade weil Strafen im Verhältnis zum Straftäter sinnlos ist, ist es geboten, die staatliche Strafe so zurückhaltend wie möglich einzusetzen.“