■ Steinkühler: Aufregung ist das mindeste
: Der Höllensturz

Die Börsenspekulation, dank derer Franz Steinkühler im Handumdrehen um rund 100.000 Mark reicher geworden ist, erweist sich nicht nur als eine weitere Katastrophe für das Ansehen und die Kampfkraft der Gewerkschaften, sie schwächt auch das Potential, das die Demokraten der Bundesrepublik für die Verteidigung der Grundrechte in die Waagschale werfen können. Dafür stärkt das Aktiengeschäft des IG-Metall-Vorsitzenden die populistische Demagogie, nach der die Mitglieder der „politischen Klasse“ nichts weiter sind als Betreiber und Nutznießer eines Bereicherungskartells. Deshalb ist der „Fall Steinkühler“ nicht allein das Problem seiner Gewerkschaft.

Würde man Steinkühlers Aktion allein unter den Gesichtspunkten des rational choice, der von Gewinnerwartung diktierten ökonomischen Verhaltensweise sehen, so wäre an ihr wenig auszusetzen. Es wird Steinkühler nicht nachzuweisen sein, daß er die Mercedes-Aktien kaufte, weil ihm die bevorstehende Verschmelzung der Automobil-Holding mit der Daimler- Benz AG bekannt war. Und auch wenn dieser Nachweis gelänge, läge zwar ein Verstoß gegen die Richtlinien der Frankfurter Wertpapierbörse vor, aber keine strafbare Handlung. Geschädigt wäre zudem weder der Steuerzahler noch die Belegschaft von Daimler sondern allein konkurrierende Mit-Spekulanten. So what?

Eine Argumentation, die den Gewerkschaften empfiehlt, endlich die Konsequenz aus der Alternativlosigkeit der kapitalistischen Produktionsweise zu ziehen und ihren Vertretern das zu erlauben, was für das Managment jedes beliebigen Service-Unternehmens Tagespraxis ist, verfehlt vollständig die Bedeutung identitätsstiftender, in der „Kultur“ der Gewerkschaften fortwirkender und für ihren Zusammenhalt wesentlicher Faktoren. Von Otto Brenner über Eugen Loderer bis zu Franz Steinkühler standen an der Spitze der IG Metall Funktionäre, deren Charisma sich aus dem Stolz, einer gesellschaftlichen Gegenmacht anzugehören ebenso nährte wie aus dem kollektiven Gedächtnis der Aktivisten an die vergangenen „Klassenschlachten“. In den Zeiten allgemeinen deutschen Geschichtsverlustes ist dieses Bewußtsein kämpferischer Kontinuität, deren Wurzeln bis in die Zeit vor 1933 reichen, eine Produktivkraft des Widerstands. Seit Otto Brenner haben die Chefs der IG Metall aus der deutschen Geschichte, vor allem aus der Mitschuld der Unternehmerverbände am Nazismus die Berechtigung abgeleitet, über die korporative Interessenvertretung ihrer Mitglieder hinaus sich in die Politik einzumischen. So wenig erfolgreich ihre Interventionen auch waren, sie dienten überwiegend, bis in die jüngste Erklärung Steinkühlers „nach Rostock“, dazu, demokratische Positionen zu sichern.

Paradoxerweise wurde diese demokratische Orientierung oft genug mit undemokratischen Mitteln verfolgt. Der Preis für „Identitätsstiftung“ durch anerkannte, durch geliebte Arbeiterführer ist immer sehr hoch gewesen. Die Führer der Gewerkschaft stützten und stützen sich auf eine Art des „demokratischen Zentralismus“, der mit dem der untergegangenen realsozialistischen Staatsparteien eine mehr als oberflächliche Verwandtschaft hat. Die Geschichte der Ausschlüsse aus der IG Metall, die selbstherrliche Geringschätzung demokratischer Basis-Strukturen, das Übermaß an Zentralisierung bilden die verdrängte, die Nachtseite der IG-Metall-Erfolgsgeschichte.

Aber muß man nicht doch Franz Steinkühler das „Recht auf Normalität“ zubilligen – gerade gegenüber einer Tradition, die vielen als atavistisch, als vordemokratisch gilt? Hat der Mann nicht das gleiche Recht wie die Hausfrauen, die, wenngleich mit etwas geringerem Einsatz, den gestreßten Herrn in Zweireihern auf den Börsen von Hongkong bis Frankfurt Konkurrenz machen? Kein Mensch verlangt von Steinkühler, er solle mittags aus einem Henkelmann löffeln oder Abends mit den Kollegen am Tresen hocken. Keiner verlangt von ihm Zurückhaltung in Bezug auf Kleidung, Ernährung, Freundinnen oder Beförderungsmittel. Nur eines ist ihm legitimerweise zumutbar: Sich selbst und der Wahl, die er einmal getroffen hat, treu zu bleiben. Niemand hat ihn gezwungen, Gewerkschaftsvorsitzender zu werden. Da er es nunmal ist, hätte er sich zu hundert Prozent den Interessen und den (auch noch so altmodischen) Erwartungen derer zu widmen gehabt, die keine Zeit (und oft auch keine Lust) dazu haben, die Börsenkurse zu studieren. Dafür gibt es ein einfaches Wort: Loyalität. Sie hat er verraten und darin besteht sein Höllensturz. Christian Semler