■ Gegen das Duckmäusertum
: Brennende Kerzen, eiskalte Köpfe

Jahrelang eskalierten die Ausschreitungen gegen Flüchtlinge und Ausländer. Es kam Hoyerswerda, es kam Rostock. In der Bevölkerung gab es kaum eine spürbare Reaktion, keinen Aufruhr, keinen nennenswerten Widerstand. Die Politiker der Rechten schürten weiterhin das Feuer, Liberale, Demokraten, Sozialisten legten die Hände in den Schoß, Ultrarechte und Neonazis lachten sich ins Fäustchen, Polizei und Justiz drückten beide Augen zu, die Gewerkschaften begnügten sich mit verbalen Bekundungen. Im Ausland weckten die Nachrichten aus dem neu vereinten Deutschland schlummernde Ängste. Doch die Bundesregierung ließ offiziell erklären, Deutschland sei ein ausländerfreundliches Land. Von fremdenfeindlichen Tendenzen in der Bevölkerung sei ihr nichts bekannt. Radikale Wirrköpfe gäbe es überall. Deutschland bilde da keine Ausnahme.

Dann kamen die Ereignisse in Mölln und Sachsenhausen. Wie ein Blitzschlag fuhren dieser dreifache Mord und der Brandanschlag gegen den jüdischen Friedhof durch die Gemüter der Nation. Es gab heftige Reaktionen der deutschen Wirtschaft, die Einbußen befürchtete. Es gab einen Aufstand der Massen in Form von Lichterketten, Rockkonzerten, Kundgebungen und Demonstrationen. Die Verbrechen von Mölln und Sachsenhausen hatten das Eis gebrochen, das deutsche Gewissen wachgerüttelt.

Beschämt senkten wir Ausländer den Blick. Welch verwegene Verdächtigungen hatten sich in den Wochen und Monaten davor in unsere Köpfe eingeschlichen, welche abwegigen Gedanken sich in unsere Phantasie eingenistet.

Doch während wir uns von dem Lichtermeer und den tränenvollen Augen berauschen ließen und die Fernsehsatelliten, zur Beruhigung des Auslands, Bilder und Szenen des freundlichen, humanen Deutschland um die Erdkugel sendeten, saßen die kältesten Köpfe der Nationen hinter den Kulissen und brauten den Flüchtlingen einen neuen Schmaus. Noch waren die Kerzen nicht abgebrannt, da wurde der sogenannte Asylkompromiß verkündet. Fortan sollten die Grenzen Deutschlands für Flüchtlinge nahezu vollständig abgeriegelt, mit Stacheldraht verhauen und durch sichtbare und unsichtbare Mauern unüberwindbar gemacht werden. Und das in der Verfassung verankerte Recht auf Asyl – dieses Reuezeichen gegenüber der eigenen Geschichte – soll ausgehöhlt und für immer ausgelöscht werden. Da hätte man einen allgemeinen Aufschrei der Teilnehmer der Lichterketten erwartet. Mitnichten. Die Freundlichkeit gegenüber Ausländern sei eine Sache, die Einsicht in die Notwendigkeit eine andere, hörte man die Leute sagen. Es ist schon merkwürdig, daß die vermeintliche „Einsicht in die Notwendigkeit“ immer zugunsten der Rechten und Ultrarechten erfolgt und daß dabei Irrationalismen als bare Münze verkauft werden. Sie könnte doch einmal zugunsten der Vernunft, der Moral und der historischen Verpflichtung wirken. Doch man kann sich die Zunge wundreden, man kann die manipulierten Zahlen und Daten immer wieder entschlüsseln, die Tatsachen schwarz auf weiß auf den Tisch legen, kann abertausendmal wiederholen, daß man politische Flüchtlinge von Bürgerkriegsflüchtlingen und Einwanderern trennen muß, um festzustellen, daß die Behauptung, Deutschland könne keine Flüchtlinge mehr aufnehmen, pure Demagogie und reinste Lüge ist – die Mühe ist vergeblich. Es wird einfach weitergelogen. Papageienartig wird die Lüge wiederholt: Deutschland müsse, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, die Wohnungsnot zu beseitigen, die Probleme der deutschen Einheit zu meistern und der Orientierungslosigkeit der Jugend entgegenzuwirken, seine Grenzen für Flüchtlinge schließen. Gegen diese Sündenbocktheorie ist keine Aufklärungskampagne gewachsen. Das Volk schaut den Politikern, die Politiker dem Volk aufs Maul.

Verwunderlich ist hierbei die Position der Sozialdemokraten. Eine Partei, die schon von ihrer Tradition her mit Vertreibung, Verfolgung und Flucht konfrontiert war, deren beste Köpfe selbst zu politischen Flüchtlingen zählten, sollte mit dem Recht auf Asyl behutsamer umgehen. Die Art und Weise, wie die SPD mit dem Paragraphen 16 des Grundgesetzes hantiert, die Kompromißbereitschaft, die sie gerade in bezug auf dieses Grundrecht gegenüber der Rechten und Ultrarechten an den Tag legt, ist auch unter taktischen Gesichtspunkten gesehen einfach dumm. Jedem Sozialdemokraten müßte klar sein, daß man mit diesem duckmäuserischen Verhalten keine Stimme gewinnt. Im Gegenteil: jeder Wähler wird sich doch eher für das Original entscheiden, als für die Fälschung. Stimmen kann die SPD nur dann gewinnen, wenn sie aufrecht und unerschütterlich den Konservativen und Rechtsradikalen die Stirn bietet und jene Werte verteidigt, die nach eigenen Angaben ihre Existenz legitimieren. Dazu gehört ohne Zweifel das Recht auf Asyl.

Am 26. Mai soll nun im Bundestag über den Asylkompromiß debattiert und entschieden werden. Es ist schon eigenartig, daß man mit der Bekanntgabe dieses Datums so lange gezögert hat. Vermutlich wird die Mehrheit der SPD-Fraktion dem Brauch gemäß ja sagen und sich dem Willen der Regierungskoalition unterwerfen. In der Geschichte der Sozialdemokratie, auch in der der Bundesrepublik wird der 26. Mai 93 kein Ruhmes-, sondern ein schwarzes Blatt bilden, für die Rechtsradikalen ein Tag des Triumphs. Ihre Verbrechen gegen Flüchtlinge haben endlich das erwünschte Ziel erreicht. Bahman Nirumand