Zarte Bande

Noch riechen beide etwas abgestanden, noch sind da bürgerliche Hemmungen, doch zaghaft, einer nicht ganz standesgemäßen Affäre gleich, beginnen historischer Spielfilm und Geschichtswissenschaften miteinander zu flirten  ■ Von Dorothee Wenner

In Julius Caesar von Mankiewizc tragen alle Personen auf den Stirnen Haarfransen. Bei manchen sind sie gewellt, bei anderen glatt, bei wieder anderen aufgekräuselt und bei anderen geölt, bei allen jedoch sind sie sorgfältig zurechtgemacht, und Glatzköpfe sind nicht zugelassen worden, obwohl doch die römische Geschichte auch davon eine große Zahl geliefert hat.“

Roland Barthes über „Die Römer im Film“

In jedem Feuerwehrmann steckt ein kleiner Pyromane. Aber wenn das eigene Dach brennt, möchten wir diese Geistesverwandtschaft nicht wahrhaben. So ähnlich verhält es sich mit dem Hypochonder und dem Arzt oder dem Kontaktbereichsbeamten und seinem Interesse an Einbrechern. Für die gesellschaftliche Ordnung ist es von zentraler Bedeutung, daß die Grenzen zwischen den Sparten klar und durchlässig erscheinen, und doch stellt man sich eine Plauderstunde der ungleichen Paare überaus anregend vor. Aus naheliegenden Gründen kommt es dazu nur sehr selten, schließlich riskiert immer eine der Parteien, unbeabsichtigt ins gegnerische Lager abzurutschen.

Eine vergleichbar heikle Begegnung ist die von Geschichtswissenschaft und Historienfilm. Der folgende Text ist eine kleine Spurensicherung auf der Suche nach Durchlässigkeiten und Schlupflöchern in der Mauer, die William Wylers „Ben Hur“ oder Romy Schneider als Königin Elisabeth bislang den Zutritt in die Geschichtswissenschaft verwehrte.

Das Tabu und seine Brecher

Traditionell serviert das Fernsehen zu großen kirchlichen Feiertagen opulente Schinken am Nachmittag. Ostern zum Beispiel sendete RTL 187 Minuten „Kampf um Rom“, das zweiteilige Monumentalepos von Robert Siodmak mit einigen der berühmtesten Pannen der Filmgeschichte. Ein Statist im Löwenfell liefert sich mit dem gotischen Helden Totila einen ungewollt komischen Zweikampf, und in den aufwendigen Massenszenen tauchen wegen Regiefehlern immer nur Bruchteile der angeheuerten Komparserie auf der Leinwand auf. Ansonsten lehrt das Werk, daß Weltpolitik im Bett gemacht wird, und wenn irgend etwas außerhalb Liebe und Eifersucht den Lauf der Geschichte beeinflußt, dann sind es Familienzwiste oder andere Naturgewalten. „Kampf um Rom“ kam 1968/69 in die Kinos und gehört damit zu den späten Produkten eines von Hollywood geprägten Trends, das Altertum in den Filmstudios wiederzubeleben. Ein Mottenkugelgeruch geht von dieser Art Geschichtsdarstellung aus, und wer an „Hollywood's History of Ancient Times“ die Meßlatte historischer Faktizität ansetzt, ist selber schuld. Ebensogut könnte man im Arztroman nach medizinischen Informationen suchen. Bei den Rekonstruktionen der Alten Welt hat sich Hollywood zu äußerster Angeberei hinreißen lassen, weil in keinem anderen Genre so toll gezeigt werden konnte, was in Filmstudios möglich war. Von dieser mit Geld umherwerfenden Geste fühlte sich das Publikum offenbar vor 30 Jahren auf ähnliche Weise angezogen, wie es sich heute von der exorbitant teuren Software in Spielbergs Produktionen verführen läßt.

Mit der Entstehungszeit der Prunkopern wurde ein Tabu verhängt. Frei nach der tumben Volksweisheit: Wer einmal lügt... riskiert seitdem seinen Ruf als Kritiker oder Historiker, wer Geschichtsdarstellungen im Spielfilm mehr als Volkshochschulniveau attestiert. Schließlich lernt heute jeder Germanist, wie historische Zusammenhänge im Film vereinfacht werden müssen, damit's dem Publikum gefällt. Die dramaturgischen Gepflogenheiten boten über Jahrzehnte eine bequeme Entschuldigung, Filme wie beispielsweise das akribisch um Authentizität bemühte „Gandhi“-Porträt von Richard Attenborough oder auch Luchino Viscontis „Risorgiomento“-Dramen als historische Arbeiten nicht wirklich ernst zu nehmen. Wenn die filmischen Interpretationen von Geschichte nicht nur als dekorationsbestimmende Kulissen wahrgenommen werden, reduziert die Kritik sie wie selbstverständlich auf ihre künstlerische, ästhetische Qualität. Doch mittlerweile mehren sich keineswegs zufällig Ausnahmen, für die das Tabu gebrochen wurde. Einer nicht ganz standesgemäßen Affäre gleich, beginnen der historische Spielfilm und die Geschichtswissenschaft, hier und da miteinander zu flirten. Edgar Reitz' „Zweite Heimat“ zum Beispiel, eine fiktive Tiefenbohrung in bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte, wird 26 Stunden lang zur besten Sendezeit ausgestrahlt. Die Feuilletons belohnen den Mut mit ganzseitigen Artikeln, in denen mit einem gewissen Erstaunen die historische Relevanz des Mammutwerkes hervorgehoben wird. Parallel zur „Zweiten Heimat“ premierten auf der diesjährigen Berlinale Winfried und Barbara Junge die längste Langzeitbeobachtung der Filmgeschichte – eine Chronik von Dorfbewohnern, die im August 1961, am Tag ihrer Einschulung, beginnt. „Drehbuch: Die Zeiten“ lautet der Titel und verweist auf die Entstehungsgeschichte des Films im Film, der ursprünglich mal eine ziemlich staatstragende Defa-Produktion war. Nach der „Wende“ montierten die Filmemacher ihr Lebenswerk neu, ergänzten einen selbstreflexiven Kommentar, und so entstand ein einmaliges Dokument zur DDR- Geschichte. Den beiden Chronisten ist gemeinsam, daß sie sehr bewußt vor allem älteren Zuschauern eine Auseinandersetzung mit der eigenen Bibliographie seit 1958 beziehungsweise 1961 anbieten. Weil die Erinnerung an diese Zeiten in den Filmen schärfer, bunter und klarer wirkt als die eigenen, im Gedächtnis vergrabenen Bilder, behaupten manche Kinogänger, seien sie „süchtig“ nach dem Eintauchen in die Leinwandvergangenheit geworden. An solchen Reaktionen läßt sich eine Veränderung des filmischen Geschichtsbewußtseins beobachten: Zelluloid- und Videobilder werden mehr oder weniger bewußt als starke Komplizen des eigenen Gedächtnisses akzeptiert. Dabei spielen die technischen Neuerungen eine nicht zu überschätzende Rolle. Seit nämlich das Fernsehen als unermüdlicher Dokumentarist auf den Plan getreten ist, haben die bewegten Bilder begonnen, der Schrift die Rolle als wichtigster Geschichts-Archivar streitig zu machen. Das Ergebnis zeigt sich auch in der Tendenz, daß Vergangenheit im Film immer seltener zur Flucht in die guten, alten Tage benutzt wird. Wenn im cineastischen „Früher“ von seiten des Publikums also eine größere Komplexität und Widersprüchlichkeit akzeptiert wird, so spiegelt sich in der ästhetischen Geschmacksveränderung auch die in hunderttausend „Tagesschauen“ gewachsene Vertrautheit mit Filmbildern als Zeitzeugen.

Es mufft nach Dünkel

Obwohl heute fast jede Familie ihre eigene Chronik auf VHS-Kassetten festhält, haftet historischen Dokumenten auf Video oder Zelluloid in der offiziellen Geschichts„schreibung“ immer noch die Aura des Unnahbar-Revolutionären an. Bewegte Bilder speichern im Unterschied zu Fotos oder Büchern so unvermeidlich viel mehr Nachrichten und Informationen, daß ihre akademische Aufarbeitung zu einer fast unheimlichen Herausforderung für Historiker geworden ist. Sonderlich begeistert scheint man an deutschen Universitäten über das Gebirge neuer Aufgaben allerdings nicht. Denn es fehlen in den Instituten nicht allein die technischen Voraussetzungen wie Videorecorder, Leinwände und die entsprechenden Filmotheken – es gibt auch in der Geschichtswissenschaft keine bewährte Methode für den akademischen Umgang mit Film als „Quelle“. Ein knappes Jahrhundert nach Einführung der Kinotechnik könnte man jedoch erwarten, daß dieser Mangel allmählich bewußt würde und jeder Versuch, sich wagemutig auf das unerforschte Terrain vorzuwagen, unterstützt und honoriert würde. Aber zum Beispiel Andrea M. erlebte an ihrer Universität Hamburg gegensätzliche Reaktionen, als sie ihre Magisterarbeit über den mexikanischen Revolutionsfilm schreiben wollte. Noch bevor die Studentin ihr ambitioniertes Projekt der Archivlage entsprechend eingrenzen konnte, lehnten drei Professoren ihr Thema ab. Sie fühlten sich inkompetent, überfordert und boten bestenfalls eine Fotoanalyse als Kompromiß an. Es ist jedoch nur eine Frage der Zeit, wie lange Professoren den Film noch aus ihrem Zuständigkeitsbereich ausgrenzen können. Möglicherweise werden sich in ein paar Jahren die ersten vor Fernsehern, PC- und Videomonitoren aufgewachsenen Studenten an die simple Fixierung auf schriftliche Geschichte zurücksehnen, weil Bücherberge sehr viel übersichtlicher sind als Stapel von Videokassetten.

Pfadfinder leisten Pionierarbeit

„Zeitmaschine Kino“ heißt eine vor kurzem im Hitzeroth-Verlag erschienene Anthologie, die unerschrocken und geschickt eine Bresche ins wissenschaftliche Tohuwabohu geschlagen hat. Die acht Aufsätze, schreibt Herausgeber Hans-Arthur Marsike im Vorwort, seien „Tastversuche“ zum theoretischen und methodologischen Fundament einer neuen Geschichtswissenschaft, „die sich ihrem jeweiligen Thema auf völlig unterschiedliche Weise nähert. Eine Unterschiedlichkeit, die nicht nur die derzeit noch bestehende theoretische Unsicherheit zum Ausdruck bringt, sondern auch einen Eindruck der möglichen Fragestellungen vermittelt, die mit den hier vorgestellten Beiträgen gewiß noch lange nicht erschöpft ist.“ „Zeitmaschine Kino“ beginnt mit einem Text über Pasolinis Mittelalterbild, gefolgt von Analysen zu Filmen, die im 18., 19., frühen und späten 20. Jahrhundert spielen. Das chronologische Miteinander ermöglicht bei der Lektüre eine Konzentration auf das Verhältnis der im Film dargestellten Zeit zur Gegenwart ihrer Produktion. Allein eine sorgfältig betriebene Trennung dieser beiden Koordinaten läßt ahnen, wie unterhaltsam, kurzweilig und lebendig eine Geschichtswissenschaft mit audiovisuellen Quellen sein könnte. Georg Seeßlen zum Beispiel entdeckt in seinem brillanten Essay über die „Sissi“-Filme ein „deutsches Orgasmustrauma“, das in den Fünfzigern die Bundesrepublik bis ins Bildungsministerium erschüttert hat. Dort nämlich wurde „Sissi“ das Prädikat „künstlerisch wertvoll“ verliehen, mit der Begründung, die Filme enthielten „keine wesentlichen historischen Fehler oder geschichtliche Verzeichnungen“. „Was als Traum, als Vollendung einer Privatmythologie und traditionelle Sentimentalisierung produziert worden war, sollte gleichsam mit Gewalt in den Rang historischer Wahrheit erhoben werden.“ Wer würde da noch behaupten, daß „Sissi“ die Geschichte im Nachkriegsdeutschland weniger real geprägt hat als irgendwelche Bundestagsbeschlüsse?

Lichtblicke in Schatzkammern

Wenn sich der Blick auf Geschichte im Film endlich davon befreit, die dargestellte Vergangenheit nach verstaubten Paradigmen als mehr oder weniger „korrekt“ zu beurteilen, könnten Historienfilme – die Hollywood-Schinken inklusive – wie Schatzkammern neu entdeckt werden. Als kollektive, politische und soziale Sehnsüchte, die in die Vergangenheit projiziert werden, als vielsagende Großmachtphantasien oder an Irrsinn grenzenden Heile-Welt-Konstruktionen.

Mit dieser Perspektive auf Geschichte im Film verschwinden, analog zur modernen Filmtheorie, die Genre-Grenzen bis zur Unkenntlichkeit. Das Dokumentarische unterscheidet sich vom Fiktiven nur mehr in der klassischen Erwartungshaltung eines Publikums, das von Spielfilmen eher Unterhaltung, von Dokumentarfilmen eher Information erwartet – aber nicht unbedingt bekommt. Ein bißchen erinnern die neuen, zaghaften Versuche, Historienfilme in die akademische Geschichtswissenschaft zu integrieren, an eine lange zurückliegende Meinungsverschiedenheit. Anders als seine tonangebenden Nachfolger hielt es Herodot für wichtig und angemessen, daß Geschichtsschreiber außer den „Fakten“ die Fabeln, den Aberglauben und die Gerüchte der Völker in die Chroniken aufnehmen.

„Doch meine Pflicht, alles, was ich höre zu berichten, freilich nicht, alles Berichtete zu glauben. Dies gilt für mein ganzes Geschichtswerk.“ Wären Herodots „Historien“ ein Werk über die Gegenwartsgeschichte – sein Buch über Historienfilme wäre eine gern gelesene Pflichtlektüre für Cineasten und Historiker.

„Zeitmaschine Kino – Darstellungen von Geschichte im Film“. Hg.: Hans-Arthur Marsiske, Marburg, Hitzeroth 1992, 146 Seiten, 39 DM