■ Nach den Arbeitskämpfen der ostdeutschen Metaller
: Widerstand zahlt sich aus – das ist die wichtigste Streikerfahrung

Auch ohne die Enthüllungen über die Spekulationsgeschäfte des Franz Steinkühler hätte die IG Metall in den ostdeutschen Metallbetrieben derzeit keinen leichten Stand. Denn die Erwartungen im ostdeutschen Arbeitskampf waren hoch und der Dresdner Kompromiß mutet den Beschäftigten schmerzhafte, von vielen unerwartete Opfer zu. „Dafür haben wir nicht gestreikt“, sagen jetzt viele, die sich mit viel Enthusiasmus und Opferbereitschaft am Arbeitskampf beteiligt haben. Und die ernüchternde Erkenntnis, daß ausgerechnet ihr oberster Streikführer Millionär ist und sich in seinem privaten Finanzgebaren auch so verhält, bildet den Nährboden für allerhand Verratsthesen nach dem Motto: „Die stecken doch alle unter einer Decke.“ Die – das sind die Gewerkschaftsführer und Unternehmerfunktionäre, die Bosse aus allen Lagern, die Machthaber aus dem Westen.

Manches davon mag ostdeutscher Unerfahrenheit mit den Gesetzen des Tarifpokers geschuldet sein. Tatsächlich war bei den bestehenden Kräfteverhältnissen zwischen Beschäftigten und Unternehmern, zwischen Gewerkschaft und Arbeitgeberverbänden wahrscheinlich kaum ein besseres Ergebnis zu erzielen. In einer Krisenregion wie Ostdeutschland ist der Streik zwar kein „antiquiertes Modell“, wie die Zeit im nachhinein meint, sondern immer noch die einzige Waffe, die abhängig Beschäftigte im äußersten Konfliktfall für ihre Interessen einsetzen können. Aber diese Waffe ist stumpf, wenn die Betriebe unausgelastet und überbesetzt sind, wenn mit ihr kaum ökonomischer Druck auf die Unternehmen ausgeübt werden kann, wenn den Streikenden eine hohe Arbeitslosigkeit im Nacken sitzt und sie nicht ohne Grund befürchten müssen, mit ihren Aktionen die Existenz ihrer Arbeitsplätze zu gefährden. Die Unternehmer konnten, als sie den Konflikt vom Zaun brachen, auf die objektive Ohnmacht der ostdeutschen Arbeiterinnen und Arbeiter, auf den baldigen Zusammenbruch ihrer Kampfmoral setzen.

Angesichts dieser Ausgangssituation ist der Hader vieler Streikaktivisten über das, was nicht durchgesetzt wurde, weniger realitätsnah als die Frage: Was wäre ohne die massenhafte Gegenwehr der ostdeutschen Metallbeschäftigten geschehen? Darüber haben die Unternehmer von Gesamtmetall dankenswerte Klarheit geschaffen: Dann gäbe es jetzt möglicherweise überhaupt keinen gültigen Tarifvertrag, sondern ein einseitiges Diktat der Unternehmer. Die hätten in diesem Jahr einen neunprozentigen Inflationsausgleich gezahlt oder auch nicht. Der nun um zwei Jahre gestreckte Stufenplan zur Angleichung der Tariflöhne an das Westniveau wäre ganz liquidiert, und die Weichen wären gestellt, Ostdeutschland auf Dauer als Niedriglohnregion zu zementieren.

Dies alles ist bis auf weiteres verhindert worden, weil Zehntausende unter hohem moralischen und finanziellen Einsatz gestreikt haben, weil Hunderttausende in Ost- und Westdeutschland sich an Warnstreiks und Protestaktionen beteiligt haben und vor allem, weil Millionen Ostdeutsche sich immer mehr mit dem Kampf der Metall- und Stahlarbeiter identifiziert haben. Der Arbeitskampf der letzten Wochen war die größte soziale Bewegung in Deutschland nach der Wende von 1989, ein kollektiver Lernprozeß der ostdeutschen Bevölkerung in demokratischer Interessenartikulation, eine durch die Gewerkschaft struk-

turierte Erfahrung, daß man nicht alles hinnehmen muß und Gegenwehr sich lohnt. Diese Erfahrung kann den Menschen in Ostdeutschland niemand mehr nehmen, auch wenn spontan die Unzufriedenheit mit dem ausgehandelten Ergebnis überwiegen mag. –

Die Massenbewegung der letzten Wochen bezog ihre Kraft weniger aus dem streikbedingten ökonomischen Druck, sondern vor allem aus dem immer offensichtlicher hervortretenden politischen Charakter der Auseinandersetzung. Wenige im Westen, aber immer mehr im Osten haben begriffen, daß es bei dem Arbeitskampf nur vordergründig um Lohnprozente und Tarifverträge ging. In Wirklichkeit ging es darum, ob in Deutschland die dauerhafte soziale Deklassierung einer ganzen Region und damit eine tiefgreifende Spaltung der Gesellschaft durchsetzbar ist oder nicht.

Der Dresdner Kompromiß hat die Auseinandersetzung darüber nicht entschieden und ganz sicher nicht abgeschlossen. Viele Anzeichen sprechen dafür, daß sie gerade erst angefangen hat und daß der ostdeutsche Arbeitskampf nur das Wetterleuchten kommender sozialer Konflikte in ganz Deutschland gewesen ist. Teile des Unternehmerlagers haben ganz offensichtlich einen Strategiewechsel vollzogen, der mit der vertragswidrigen Aufkündigung der Osttarife erstmals sichtbar wurde. Der bei Vertragsabschluß 1991 noch vorhandene Konsens, daß es innerhalb der nationalen Grenzen auf Dauer kein Niedriglohngebiet geben solle, ist unmißverständlich aufgekündigt. Und erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik wurde der Tarifvertrag als verrechtlichte Institution des sozialen Kompromisses, als für alle abhängig Beschäftigten gültiger Schutz gegen soziale Deklassierung massiv infrage gestellt.

Es kommen harte Zeiten auf die Lohn- und Gehaltsabhängigen und ihre Gewerkschaften in Deutschland zu, wenn die Unternehmer tatsächlich aus dem spezifisch deutschen Modell der „Sozialpartnerschaft“ aussteigen wollen. Denn erstmals im Nachkriegsdeutschland hat die konservative Strategie der sozialen Spaltung mit dem Zusammenbruch der Ökonomie in Ostdeutschland eine objektive Chance erhalten, die Macht der Gewerkschaften und – allgemeiner gesprochen – das Prinzip Solidarität in der Gesellschaft schrittweise zurückzudrängen und letztlich ganz zu brechen. Die bisher erfolgreich aus dem öffentlichen Bewußtsein verdrängte Massenarbeitslosigkeit läßt sich – spätestens seit Ausbruch der Rezession – auch im Westen nicht mehr verbergen. Die verheerenden sozialen Ausgrenzungsprozesse sind längst nicht mehr nur auf Ostdeutschland und den unteren Rand der westdeutschen Gesellschaft beschränkt. Sie fressen sich tief in bisher sozial abgesicherte Bevölkerungsschichten hinein und untergraben nicht nur den gewohnten Massenwohlstand, sondern auch die Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaften.

Die Idylle der relativ intakten westdeutschen Wohlstandsinsel gibt es nicht mehr. Der Massenarbeitslosigkeit wird in wenigen Jahren die Massenarmut von diesseits und jenseits der Grenzen folgen, und kein sozialstaatliches Krisenmanagement wird diesem Problemdruck gewachsen sein. Angesichts derartiger Aussichten scheint es, als seien die streikenden Arbeiter in der ostdeutschen Metall- und Stahlindustrie und die aktiven Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter in Ost und West dichter an der gesellschaftlichen Realität in Deutschland als viele andere, die sich in den letzten Jahren von der „sozialen Frage“ offen oder klammheimlich verabschiedet haben. Sie haben im Frühjahr 1993 der Offensive konservativer Krisenstrategen eine massive gesellschaftliche Mobilisierung entgegengesetzt. Das wird auch weiterhin, und zwar nicht nur im Osten, nötig sein, wenn diese Gesellschaft nicht unter die Räder eines offensiven Thatcherismus kommen soll. Denn die sozialen Standards der vereinigten Bundesrepublik werden in den nächsten Jahren neu erkämpft werden müssen. Martin Kempe