Von den Sternen zurück in die Realität

Heute proklamiert die einstige äthiopische Provinz Eritrea ihre formelle Unabhängigkeit. Nach 30 Jahren Guerillakrieg ist die EPLF nun dringend auf ausländische Wirtschaftshilfe angewiesen  ■ Aus Asmara Bettina Gaus

Appetithäppchen und Getränke werden im funkelnden Licht schwerer Kristalleuchter gereicht: Isias Afewerki, Generalsekretär der Übergangsregierung Eritreas, bittet im großen Festsaal der Stadtverwaltung von Asmara zum Empfang. Unter Diplomaten, UN-Repräsentanten und Kabinettsminister mischen sich junge Männer in Anzug und Krawatte – Guerilleros von gestern auf dem Weg in eine bürgerliche Existenz.

Vor zwei Jahren hatte der Sturz des äthiopischen Militärherrschers Mengistu Haile Mariam den Weg freigemacht für das Ziel, für das die Eritreische Volksbefreiungsfront EPLF drei Jahrzehnte lang gekämpft hatte: Die Loslösung der Region von Äthiopien und die volle staatliche Unabhängigkeit Eritreas. Jetzt hat sich die Bevölkerung in einem Referendum, das unter UNO-Aufsicht stattfand, zu 99,8 Prozent für die Unterstützung dieses Zieles ausgesprochen. Und es scheint, als sei den EPLF-Vertretern der Marsch vom unwegsamen Gefechtsgelände im Busch aufs glatte internationale Parkett mühelos gelungen. Frohe Botschaften machen im gedämpften Gespräch die Runde: Die USA und die ehemalige Kolonialmacht Italien gehören zu den ersten Ländern, die die staatliche Unabhängigkeit Eritreas anerkannt haben.

Das fügt sich gut ins Konzept der EPLF, die sich von einer orthodox marxistischen Bewegung zu einer Organisation gewandelt hat, die ihr Ziel eines geeinten, wirtschaftlich prosperierenden Eritrea pragmatisch zu verwirklichen sucht. Die ehrgeizigen handelspolitischen Ziele des eritreischen Wirtschaftsministeriums zeugen von festem Glauben an die Prinzipien der freien Marktwirtschaft: Bürokratische Hindernisse abzuschaffen, die Preisgestaltung dem Markt überlassen und der Produktion von Exportgütern Priorität einräumen. – Zukunftsmusik. Noch ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung von ausländischer Nahrungsmittelhilfe abhängig. „Es fehlt an Saatgut, es gibt keine Fahrzeuge, Minen behindern den Ackerbau, es müßten Brunnen gebaut und Bewässerungssysteme angelegt werden“, faßt Douglas Broderick vom Welternährungsprogramm WFP die Probleme zusammen, die der Krieg hinterließ. Dennoch hält er es „nicht für ausgeschlossen“, daß Eritrea bereits in fünf Jahren Früchte und Gemüse exportieren kann: Die Leute hier arbeiteten hart, das Fachwissen sei groß. – Beeindruckt hatten sich ausländische Helfer von den Eritreern bereits unmittelbar nach deren Sieg im Unabhängigkeitskampf vor zwei Jahren gezeigt. Von einem „Singapur-Afrikas“, das in der Region entstehen könne, war gar die Rede. Doch inzwischen blättert der Lack ab – viele Erwartungen der Anfangszeit haben sich nicht erfüllt.

„Die Umstellung von einer hierarchischen Kommandostruktur auf eine zivile Regierung ist sehr, sehr schwer, wenn nicht gar unmöglich“, meint der prominente eritreische Politikwissenschaftler Bereket Habte Selassie. Er gehört zu den Gründern der EPLF-Hilfsorganisation ERA, verbrachte Jahre im Exil und lehrt heute in den USA. Der Professor appelliert an Geberstaaten, geduldig zu sein und Verständnis zu zeigen: „Diese Regierung ist wahrscheinlich eine der eigenständigsten, unabhängigsten in der ganzen Welt. Sie wird eher jahrelang warten, als sich einem Diktat von außen beugen.“

Ausländische Verhandlungspartner können davon ein Lied singen. Verhandlungen mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR über die Repatriierung von etwa 430.000 eritreeischen Flüchtlingen im Nachbarland Sudan wurden im letzten Jahr erfolglos abgebrochen: „Die Regierung hat nach den Sternen gegriffen“, seufzt Michael Askwith, UNHCR-Sprecher in Asmara. Keine Veränderung des EPLF-Konzepts sei akzeptiert worden: „Weil sie daran gewöhnt sind, die Kontrolle zu haben, versuchen sie diese Linie beizubehalten. Aber allmählich merken sie eben, daß auch Geberorganisationen so ihre Vorstellungen haben.“

Im Mai soll jetzt weiter verhandelt werden. Michael Askwith: „Ein wechselseitiger Lernprozeß.“ Der Balanceakt zwischen Souveränität und Kompromißbereitschaft stößt bei ausländischen Helfern durchaus auf Verständnis. Die ehemalige grüne Bundestagsabgeordnete Uschi Eid, die heute im Auftrag der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit Starthilfemöglichkeiten für rückkehrwillige, qualifizierte Eritreer im deutschen Exil erarbeitet: „Es gibt Länder in Afrika, wo Hilfsorganisationen so stark sind, daß sie mehr Einfluß haben als staatliche Stellen. Wenn da ein Land Vorsichtsmaßnahmen ergreift, kann ich das verstehen.“ – Private Investoren freilich werden dadurch eher abgeschreckt. Nach dem Sieg der EPLF waren einige hundert italienische Unternehmer ins Land gereist, um wirtschaftliche Möglichkeiten zu erkunden. Die meisten haben Eritrea inzwischen enttäuscht den Rücken gekehrt: Die Regierung behält sich vor, neue Industriestandorte allein zu bestimmen. „Wir brauchen Industrie in ganz Eritrea, um auch die Gebiete, die lange vernachlässigt worden sind, zu entwickeln“, erklärt Alem Tzehaye, Leiter der Außenhandelsabteilung im Wirtschaftsministerium. „Im Augenblick soll nur dort investiert werden, wo es die Regierung anweist.“ Privatunternehmer aber unterwerfen sich einem derartigen Zwang nur selten – und Eritrea ist auf ausländische Investitionen dringend angewiesen. Das Land exportiert bislang nur etwas Salz, Fisch, Leder und einige Felle, muß jedoch Rohstoffe, Baumaterialien und Maschinen einführen. In den ersten drei Monaten dieses Jahres stehen Exporterlösen von umgerechnet 1,6 Millionen Dollar Ausgaben für Importe in Höhe von 30 Millionen Dollar gegenüber.

Auch Italiens Gesandter in Asmara, Giovanni Germano, wirbt um Feingefühl im Umgang mit der EPLF-Regierung. „Niemand kann Eritrea irgend etwas aufdrängen, weil das Land seine Revolution so gut wie alleine gemacht hat und 30 Jahre lang praktisch keine Verbündeten hatte.“ Als Äthiopiens Kaiser Haile Selassie 1962 die Region annektiert hatte, um sich einen Zugang zum Roten Meer zu verschaffen, hatte die internationale Staatengemeinschaft den Bruch des Völkerrechts widerspruchslos hingenommen – mit den Herrschern im strategisch wichtigen Addis Abeba wollten es sich weder Industrieländer noch Mitgliederstaaten der Organisation für Afrikanische Einheit, OAU, die ihren Sitz in der äthiopischen Hauptstadt hat, verderben. Jetzt hat Eritrea einen Aufnahmeantrag als 52. Mitglied der OAU gestellt – der Sieg dokumentiert sich auch in diplomatischen Formalitäten.

Aber die Erblast des Krieges ist von dem jungen Staat nicht allein zu bewältigen. Vorsichtigen Schätzungen zufolge leben etwa 1,3 Millionen Eritreer, rund ein Viertel der Gesamtnation, im Exil – unter ihnen viele gut ausgebildete Fachkräfte, die das Land für den Wiederaufbau dringend braucht. Weit weniger als zunächst erwartet, haben den Weg in die alte Heimat gefunden: „Jeder möchte zurückkommen, aber es gibt Hindernisse“, meint Professor Bereket. „Wird es eine Wohnung geben, gibt es Schulen für die Kinder – die Bedürfnisse der Familien haben Vorrang. Aus praktischen Gründen haben viele Leute nach der ersten Euphorie über die Befreiung angefangen, neu nachzudenken.“

Diejenigen, die sich in Eritrea angesiedelt haben, kommen oft in eine ihnen fremde Welt: „Ich habe mich überall sonst wie eine Außenseiterin gefühlt“, meint die 24jährige Elsa Gonbwe Jesus, die ihr Leben bisher in Kenia, den USA und Kanada verbracht hat. Vor etwas mehr als einem Jahr kam sie nach Asmara und betreut dort heute Projekte der nationalen Frauenvereinigung. Die Landessprache Tigrinia hat sie erst mühsam erlernen müssen. Sie will in Eritrea bleiben, aber sie gibt zu: „Hier fühle ich mich auch manchmal fremd.“

Die alteingesessene Bevölkerung Asmaras, Heimkehrer aus dem Exil und ehemalige Guerilleros – die verschiedenen Gruppen, die jetzt zu einer Gesellschaft zusammenwachsen sollen – stehen einander oft ratlos gegenüber. Die EPLF ist sich des Problems bewußt und versucht, in Seminaren wechselseitiges Verständnis zwischen allen Beteiligten zu wecken. „Wir haben verschiedene Weltanschauungen, Lebenserfahrungen und unterschiedliche moralische Standards“, meint ein ehemaliger Guerillero, der an einem solchen Seminar teilgenommen hat, und er fügt selbstbewußt hinzu: „Ich denke, wir Kämpfer wissen, was gut für die Bevölkerung ist. Wir müssen unser Ideal der nationalen Einheit weitertragen. Unsere Argumente sollen mehr zählen als die von anderen, weil wir selbstlos sind.“

Vorläufig zählen sie auch noch mehr: Das Mehrparteiensystsem, das die EPLF ursprünglich gleich nach dem Referendum versprochen hatte, ist inzwischen ein Projekt der fernen Zukunft. Zunächst gelte es, demokratische Institutionen aufzubauen und eine Verfassung zu entwerfen, meint Generalsekretär Isias Afewerki: „Ich gehöre nicht der Denkschule an, die glaubt, politische Parteien seien die einzig mögliche Ausdrucksform einer Demokratie.“ Es werde noch Jahre dauern, bis Parteien sich in Eritrea etablieren könnten: „Geben wir ihnen die Möglichkeit, sich zu bilden und zu reifen.“

Die EPLF habe in den letzten zwei Jahren Geschmack an der Macht gefunden, meinen ausländische Beobachter. Das alleine allerdings erklärt das Zögern auf dem Weg in eine pluralistische Gesellschaft nicht: „Das politische Verständnis der Bevölkerung hat noch nicht den Grad erreicht, an dem man davon ausgehen kann, daß die Leute religiöse Gefühle zugunsten eines nationalen Ziels unterdrücken“, glaubt Professor Bereket. Durch Eritrea verläuft ein Graben, der jetzt, angesichts der Freude über die Unabhängigkeit, nur scheinbar zugeschüttet ist: Etwa die Hälfte der Bevölkerung ist christlich, die andere moslemisch. Das Gespenst des Islamismus, der am Horn von Afrika in den letzten Jahren an Einfluß gewonnen hat, scheint der EPLF-Führung Sorge zu bereiten. Religiös gebundene Parteien sollten niemals in Eritrea erlaubt werden, die EPLF sei ein Gegner des Fundamentalismus, versichert Isias Afeworki. Und er erklärt: „Demokratie sollte der Stabilität eines Landes dienlich sein.“ Und wenn sie es nicht ist?