Grabenkämpfe ohne Gräben

■ Grüner Anti-Atom-Kongreß stritt über den Sofortausstieg wie Anno dazumal

Köln (taz) – Der Mann hängt auf seinem Stuhl, weit zurückgelehnt, die Beine von sich gestreckt, die Arme hoch unter der Brust verschränkt. Er fixiert gequält, die Augen halb geschlossen, die Saaldecke, bettet schließlich gramvoll die ministerielle Wange in die rechte Hand. Kein Zweifel: Joschka Fischer leidet.

Kaum hat er sein Credo zur künftigen Atompolitik verkündet – „Wenn wir weiter allein die Forderung des Sofortausstiegs aufstellen, führt das nicht zum Ausstieg. Da wächst der oppositionelle Bart durch den Tisch“ –, sammelt sich hinter den Saalmikrophonen der Pulk empörter Sofortaussteiger. Die Anmache trifft auch den baden-württembergischen Ministerkollegen Harald Schäfer. Fischer wird die Teilnahme an den Gesprächen zum energiepolitischen Konsens zur Last gelegt. Die ans Mikrophon drängende Basis wittert Kooperation mit der Atommafia, den Abschied vom Atom-Sofortismus, also Verrat. Eduard Bernhard, BBU-Veteran auf dem Podium, verlangt den Sofortausstieg – aus der Atomkraft und den Konsensgesprächen. Es gebe „keine Verhandlungsmasse“, und demobilisierend wirkten die Bonner Verhandlungen auf die Anti- Atomkraft-Bewegung.

Bernhard sagt dies auf einem von immerhin 600 Teilnehmern besuchten Kongreß in der Kölner Messehalle, der allein als Reaktion auf die neue Bewegung in der bundesdeutschen Nukleardebatte zustande kam.

„Grabenkämpfe ohne Gräben“, nennt Heinz Laing, der Greenpeace bei den Konsens-Verhandlungen vertritt, in einem von sechs parallel tagenden Foren den fast schon überwunden geglaubten Gesinnungskrieg über Ausstiegsfristen. In der Tat. Über die technische und ökonomische Machbarkeit und die ökologische Verträglichkeit eines Sofortausstiegs herrscht auch in Köln Einvernehmen. Wie und ob allerdings das gemeinsame Ziel angesichts des anhaltenden „machtpolitischen Patts“, das der Grüne/Bündnis90- Sprecher Ludger Volmer zur Eröffnung des Kongresses diagnostizierte, erfolgreicher als bisher anzusteuern sei, darüber kam eine seriöse Debatte kaum zustande. Laing und mit ihm Greenpeace fanden sich, weil die Organisation einen konkreten Ausstiegsfahrplan bis zum Jahr 2000 vorgelegt hatte, plötzlich in der Rolle der unsicheren Kantonisten wieder. Die Umweltorganisation sei bereit, für einen nicht einmal raschen Ausstieg Zwischenlager und Endlager hinzunehmen. Wie das zu verantworten sei, fragten Vertreter von Standort-Initiativen, nachdem Michael Sailer, Reaktorexperte des Öko-Instituts, zuvor seine Erwartung verkündet hatte, daß es bis zum Jahr 2000 „noch zweimal knallt wie in Tschernobyl“.

Dabei hatte die Veranstaltung über weite Strecken gehalten, was sie versprach. Erstmals seit vielen Jahren war – im Vorfeld der ab morgen am selben Ort zelebrierten Jahrestagung Kerntechnik der Atomwirtschaft – die AKW-Kritik fast vollständig versammelt. Klaus Traube, Chef des Bremer Instituts für kommunale Energiepolitik, erinnerte daran, daß auch eine neue Reaktorgeneration „absolute Sicherheit nicht herstellen kann“. Und er warnte vor der „Fokussierung“ auf eine weiterentwickelte Sicherheitstechnik, die weder die gewollte Zerstörung eines Atomkraftwerks durch Sabotage, Terrorismus oder Krieg verhindern könne noch das Problem der Entsorgung und der Weiterverbreitung nuklearer Atomtechnik zum Bau von Atombomben löse.

Die ehemalige Berliner Umweltsenatorin Michaele Schreyer verlangte im einzigen politisch- strategischen Referat des Tages, die Grünen müßten endlich auch die Bundesebene als Handlungsebene nutzen, weil hier letztlich über die atomare Zukunft entschieden werde. Dazu gehörten auch die Konsensgespräche, an deren erfolgreichen Abschluß Schreyer allerdings ebensowenig glaubt wie die Minister Fischer und Schäfer. Und Schreyer fand zum Thema Ausstiegsfristen listig jene Formel, mit der – am Beifall gemessen – die grüne Mehrheit vorerst gut leben kann: Die nach Tschernobyl im Jahr 1986 von der SPD anvisierte 10-Jahres-Frist sei schließlich 1994, wenn im Bund gewählt wird, mit der Forderung nach einem Sofortausstieg „zeitlich fast deckungsgleich“.

Ob sie damit in der Diskussion am Abend angekommen wäre, scheint fraglich. Dort hatten einige das Kuckucksei ausgebrütet, das morgens ein zorniger Robert Jungk in seinem per Großleinwand eingespielten Grußwort dem Kongreß ins Nest gelegt hatte. Jungk verlangte „Atomverbrecherprozesse nach dem Muster von Kriegsverbrecherprozessen“. Abends wurde daraus die Forderung nach „Atomverbrecherprozessen und Psychiatrisierung“ der nuklearen „Mörderbande“. Fischer platzte der Kragen. Wenn „das nicht sofort aufhört, geh' ich heim“. Das tat er dann doch erst am Ende – fluchtartig. Gerd Rosenkranz