Sexuelle Gewalt in der Therapie

Morgen beginnt das dritte Verfahren gegen einen Neurologen, der Patientinnen in der Therapie sexuell mißbraucht haben soll / Strafrecht scheint derartigen Fällen kaum gewachsen  ■ Von Karin Flothmann

Berlin (taz) — Sexuelle Gewalt auf Krankenschein? Was paradox klingt, ist in Therapien beileibe kein Einzelfall. Auch wenn nur wenige PatientInnen mit ihren Erfahrungen an die Öffentlichkeit gehen und einen Prozeß gegen ihre TherapeutInnen anstreben. In Rheinland-Pfalz macht derzeit jedoch der Fall eines Neurologen von sich reden, der schon 1991 wegen sexuellen Mißbrauchs Widerstandsunfähiger (§ 179 StGB) in drei Fällen verurteilt worden war. Damals wurde er vor dem Schöffengericht in St. Goar zu einer Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren auf Bewährung und einer Geldstrafe von 40.000 Mark verurteilt. Der „Betrugsfall Schäferstündchen“ machte Schlagzeilen, denn der Arzt hatte die sexuellen Übergriffe unter der Rubrik „Gesprächstherapie“ mit den Krankenkassen abgerechnet. Gegen das Urteil legte der Neurologe Widerspruch ein. Die Berufungsverhandlung begann letzten Freitag am Landgericht Koblenz.

Noch während des laufenden Prozesses vor drei Jahren meldete sich eine weitere Patientin und belastete den Arzt erneut. Auch in diesem Fall wurde mittlerweile Anklage erhoben. Der Prozeß beginnt morgen vor dem Amtsgericht St. Goar. Diesmal wird dem Arzt sexueller Mißbrauch über einen Zeitraum von insgesamt elf Jahren vorgeworfen. Staatsanwaltschaft und Nebenklage plädieren nun zusätzlich für ein strafrechtliches Berufsverbot.

Der § 179 gewährleistet keinen Schutz für Frauen

Daß sexuelle Gewalt durch Therapeuten kein vereinzeltes Delikt ist, belegen in den USA längst verschiedene Studien. Bis zu 12 Prozent aller männlichen Psychologen und Psychiater gaben danach „erotischen Kontakt oder Geschlechtsverkehr“ mit ihren Patientinnen zu. Die zuständigen Fachverbände definieren zwar innerhalb ihres Standesrechts sexuelle Gewalt durch Therapeuten klar als Berufspflichtverletzung, doch Konsequenzen ziehen sie meist nicht. „Generell“, so die Wiesbadener Rechtsanwältin Claudia Burgsmüller, „herrscht von seiten der Ärztekammern oder des Berufsverbandes deutscher Psychologen, völlige Zurückhaltung bis hin zur Rückendeckung.“

Dreh- und Angelpunkt bei der sexuellen Gewalt durch Ärzte ist der § 179. Doch der gesetzliche Schutz für betroffene Frauen ist bisher mehr als unzureichend. Dieser Paragraph, ahndet nämlich den „sexuellen Mißbrauch Widerstandsunfähiger“. Er bezieht sich also, so Claudia Burgsmüller „auf die spezifisch defizitäre Situation beim Opfer.“ Strafbar ist danach die sexuelle Gewalt gegenüber Personen, die „wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer anderen seelischen Abartigkeit zum Widerstand unfähig“ sind. Nach Ansicht von Burgsmüller werden Frauen mit diesem Paragraphen „in völlig inakzeptabler Weise pathologisiert“, also zu Schwerstkranken gemacht. Das extrem emotionale Abhängigkeitsverhältnis, das die Beziehung von PatientIn und TherapeutIn in der Regel kennzeichnet, wird im Strafrecht nicht zur Kenntnis genommen.

Psychotherapie funktioniert allerdings nur, wenn sich eine Patientin ihrem Therapeuten voll anvertraut. Diese emotionale Abhängigkeit der PatientIn vom Therapeuten schränkt, so der Frankfurter Psychotherapeut Martin Ehlert-Balzer, generell die Freiheit der Willensbildung erheblich ein. Ehlert-Balzer hält daher einen besonderen strafrechtlichen Schutz von Patientinnen vor sexueller Ausbeutung durch Psychotherapeuten für notwendig.

Vor Gericht muß die Patientin nach § 179 nachweisen, daß sie nicht in der Lage war, Widerstand gegen die sexuellen Übergriffe ihres Arztes zu leisten. „Daran scheitern alle Verfahren, die man der Strafgerichtsbarkeit bisher zumutete“, meint Burgsmüller. „Denn erfolgversprechend im Sinne einer Verurteilung des Täters sind nach § 179 nur die schwerstgeschädigten Patientinnen.“

Von daher hat der Fall, der morgen gegen den in erster Instanz verurteilten Neurologen zur Verhandlung kommen wird, tatsächlich Aussicht auf Erfolg. Denn die Mandantin, die von Claudia Burgsmüller in der Nebenklage vertreten wird, hat über Jahre hinweg verschiedene Stationen psychotherapeutischer Behandlung durchlaufen.

In einem ersten psychologischen Gutachten wird der betroffenen Frau allerdings bescheinigt, es habe bei ihr zur Zeit der Behandlung „keine neurotische Störung oder schwere Abhängigkeit“ vorgelegen. Ferner wird darin festgestellt, sie wäre durchaus in der Lage gewesen, „Widerstand zu leisten.“ Und auch die vorurteilsbeladene Sichtweise des männlichen Gutachters findet Eingang: Für ihn wurde in Gesprächen mit der ehemaligen Patientin deutlich, „daß sie sich in der therapiefreien Zeit in einer lustvollen Erwartungsspannung befand, sich vor dem Treffen ausgiebig parfümierte und verführerisch kleidete.“

Ein zweiter Gutachter, der herangezogen wurde, kam hingegen zu gegenteiligem Ergebnis: „Aufgrund der besonderen Situation in der Psychotherapie und der damit im Zusammenhang stehenden emotionalen Abhängigkeit war die Zeugin erkenntnis- oder willensmäßig nicht mehr in der Lage, sinnvolle Entscheidungen über ihr Sexualverhalten zu treffen. Das Opfer konnte nicht den Widerstand entwickeln, den es ohne die Störung vermutlich geleistet hätte.“

Da die Verteidigung mittlerweile ein drittes Gutachten beantragt hat, gehen Expertinnen davon aus, daß das anhängige Verfahren auf einen Gutachter-Streit hinauslaufen könnte. „Da gewinnt dann letztlich nicht das Recht, was immer das auch sei,“ meint Burgsmüller, „sondern, wer die besseren Nerven, wer die größeren finanziellen Ressourcen hat.“