Aufschreibesysteme um 1990

Falsche Namen und frei flottierende Identitäten: Siri Hustvedts Roman „Die unsichtbare Frau“  ■ Von Peter Laudenbach

Wer bei Verstand ist, verschwendet keine fünf Minuten mit einem Buch, das verspricht, von einer „Literaturstudentin in New York“ zu erzählen, einer „intelligenten, schönen Frau auf der Suche nach sich selbst“, die sich „wie unter einem inneren Zwang auf eine Reihe von erotischen Abenteuern einläßt“. Siri Hustvedts Roman „Die unsichtbare Frau“, für den der Rowohlt Verlag mit derlei Kontaktanzeigenprosa wirbt, hat erfreulicherweise nicht mit den Hardcore-Klischees des Klappentextes zu tun. Er tut nur so. Der Klappentext verrät präzise, mit welchen standardisierten Phantasien und Erzählmustern die Autorin spielt. Unverkennbar geht es ihr gerade um dieses Spiel – die Versatzstücke „New York“, „erotische Abenteuer“, „junge Frau auf der Suche nach sich selbst“, werden nur evoziert, um in eine seltsame Irrealität umzukippen.

In dieser Erzählhaltung wie in der düsteren Großstadtszenerie hat der erste Roman der in New York lebenden Autorin Parallelen zu den Büchern ihres Ehemannes Paul Auster. Die klischierte Szenerie wird ebenso gespenstisch verzerrt wie die Figuren, die sich in ihr bewegen: Alles scheint der erzählenden Protagonistin, gerade in der hyperrealistischen Beschreibung, zu entgleiten. Immer wieder legen sich Traumsequenzen und Halluzinationen über die Wirklichkeit – Delirien, erlebt mit der Gewißheit, „daß ich die Wahrheit sehe, daß mein Gefühl schrecklicher Zerbrechlichkeit und Abwesenheit die Welt ist – öde und entblößt“. Nicht um eine „Reihe von erotischen Abenteuern“ geht es, sondern um die vergeblichen Versuche, Wirklichkeit zu fixieren, faßbar zu machen. Die Affairen führen vor allem das Verfehlen des Gegenübers vor: Kein Halt und keine Schönheit im Begehren, nur verwirrend klaustrophobische Gefühlslabyrinthe. Die erotisch aufgeladenen Begegnungen beschleunigen das Zerbröckeln der Wirklichkeit.

Ständig wird photographiert, etwas auf Karteikarten notiert oder auf Kassetten gesprochen, zwanghaft müssen Realitätspartikel in Aufzeichnungen oder Bilder verwandelt werden: Eine kleine Sammlung von Aufschreibsystemen um 1990. Es geht um diese Abbildungsverfahren, nicht um das Abgebildete. Hustvedt führt vor, wie die Abbildungen eigene Realität konstituieren – die allseits beliebte Simulation, die einmal das Herz modebewußter Semiotiker höher schlagen ließ.

Hustvedt schreckt nicht davor zurück, das überdeutlich noch auf der banalsten Ebene vorzuführen: „Ich las die Neonbuchstaben, die in der Dunkelheit über der Straße hingen – für obskure Produkte und Lokalitäten werbende Zeichen. Ich wußte, daß einige davon Namen für Dinge waren, die nicht mehr existierten – eingegangene Firmen, leerstehende Hotels.“ Die Zeichen sind blind geworden, sie sind noch lesbar, aber sie bezeichnen nichts mehr. Ein Photograph antwortet auf den Standardvorwurf, auch Bilder können lügen und „eher Falsches als die Wahrheit vermitteln“, gelangweilt: „Also wirklich – was bedeutet das, die Wahrheit?“ Hier ist sie bestenfalls eine anachronistische Kategorie, vollkommen untauglich, um sich mit ihrer Hilfe durch die Tage und Nächte zu bewegen.

All die Versuche „auf der Grundlage eines verspäteten Positivismus des 19. Jahrhunderts“ sich der Fakten zu versichern, produzieren nur eins: Geschichten, neue Phantasien, die „die Realität“ überfluten. An einer Schlüsselstelle des Buches wird dieses Verschwinden von Wirklichkeit wörtlich genommen: Die Protagonistin betrachtet ein Photo, das sie erschreckt und verwirrt, eine Aufnahme, die sie selbst zeigt. Sie sieht, wie sich auf dem Photo ein schwarzes Loch ausbreitet, den photographierten Körper verschlingt und, als das Bild verschwunden ist, die Hände, die das Bild gehalten hatten, verschluckt – „dann war ich blind“.

Der Roman betreibt eine einzige subtile und gründliche Demontage der Vorstellung, es existiere eine robuste und nur von Verrückten bestrittene Wirklichkeit. Ihr fällt als erstes die Vorstellung einer eindeutigen, sauber ausgestanzten Identität zum Opfer: Nicht von einer „Suche nach sich selbst“ erzählt das Buch, sondern vom Brüchigwerden der Vorstellung, es gebe so etwas wie ein „Selbst“, dem man wohlgemut trauen kann. Es verschwindet im Sog der Phantasien und Bilder, die die Figuren unentwegt produzieren.

Als kleinen Hinweis auf das Konstruktionsverfahren ihres Buches läßt die Autorin ihre Protagonistin an einer literaturwissenschaftlichen Arbeit über die „Fiktionen in der Fiktion“ arbeiten. Es klingt wie ein Glaubensbekenntnis, wenn die Ich-Erzählerin am Ende des Buches ausruft, „daß wir ständig von allen möglichen Fiktionen infiziert werden“. Die Größe „Identität“ wird im Maskenball, den der Roman veranstaltet, zu etwas, was man erfindet wie eine Geschichte. Eine der Figuren schreibt unter Pseudonymen Stories für Zeitschriften, ein anderer Herr, dem wir auf einem Kostümfest begegnen, nennt sich „Paris“ und macht seinen früheren Namen zu seinem „einzigen wirklichen Geheimnis“. Auch die gute alte Androgynität kommt zu ihrem Recht, als sich die Protagonistin als Mann verkleidet und sich, eine kleine dezente Hommage an Klaus Mann, „Klaus“ nennt.

Das Spiel mit falschen Namen und frei flottierenden Identitäten betreibt Siri Hustvedt mit einiger Raffinesse: Ihrer Protagonistin leiht sie den eigenen, rückwärts gelesenen Vornamen inklusive einiger autobiographischer Details – auch sie, scheint sie uns zu verstehen zu geben, betreibt ein Verschwinden in Geschichten, ein Auflösen und Aufgehen der Identität in Imagination – eine späte Verwandte Fernando Pessoas, der sich als Autor in diverse Heteronyme aufspaltete.

Ihre Protagonistin setzt das Spiel fort, indem sie einen falschen Nachnamen annimmt: Iris Vegan nennt sich Iris Davidsen, ihren echten Namen erfährt der Leser erst nach der Hälfte des Buches. Dieses Verstecken ist alles andere als eine nette Spielerei: „Es war ein Akt der Notwehr, der mich vor einer vagen Gefahr schützen sollte. Später jedoch verfolgte mich dieser falsche Name; er schien mich anderswohin zu versetzen, brachte mich vom Weg ab und veränderte eine Zeitlang auf seltsame Weise meine ganze Welt.“ Im Angstuniversum dieses Romans ist nicht mal dem eigenen Körper zu trauen („Ich wußte, das blöde Ding würde auseinanderbrechen“), die Gefahren bleiben ungreifbar, und die überall lauernde Bedrohung ist vielleicht nur das nach außen projizierte Gefühl der Brüchigkeit der eigenen Existenz: „Die Gehirnschale hat des Monopol für solche Artikel“ (Samuel Beckett). Siri Hustvedts Gehirnschale jedenfalls produziert erschreckend präzise, scharf umrissene Bilder einer sich auflösenden Welt.

Siri Hustvedt: „Die unsichtbare Frau“. Aus dem Amerikanischen von Uli Aumüller. Rowohlt Verlag 1993, 267 Seiten, geb., 36 DM