Der Westteil hat mehr Rechtsextreme

■ Studie der FU hat Trandumkehrung festgestellt: Nicht mehr im Ostteil der Stadt, sondern in Westberlin gibt es stärkere rechtsextrimistische Tendenzen / Grund: Das Ende der Vereinigungseuphorie

Die festgefügte Welt der Vorurteile brachte kürzlich das Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung (ZI) an der FU durcheinander. Immer, wenn von Rechtsextremismus die Rede ist, wird eilfertig mit dem Finger in Richtung Osten gezeigt. Dem ist, glaubt man den Zahlen einer ZI- Studie, nicht so. Rechtsextremistische Tendenzen, so fanden die Forscher Jürgen W. Falter, Richard Stöss und Jürgen Winkler zusammen mit rund 25 Studenten heraus, zeigen sich heute weitaus stärker im West- als im Ostteil der Stadt.

Innerhalb von zwei Jahren, so die Ergebnisse einer Befragung unter knapp 3.000 Personen, habe sich das Bild umgekehrt: Neigten noch im Sommer 1990 in Ostberlin 17 und im Westteil acht Prozent zum Rechtsextremismus, so waren es 1992 im Osten sechs und im Westen neun Prozent.

Um der „Mixtur“ Rechtsextremismus auf die Spur zu kommen, fragten die Forscher verschiedene Einstellungen ab, unter anderem zum Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus, zur Fremdenfeindlichkeit, aber auch etwaige Sympathien für den Nationalsozialismus oder für rigide Erziehungsmethoden (Autoritarismus).

Über die „Trendwende“ ihrer Ergebnisse (O-Ton) zeigten sich selbst die erfahrenen ZI-Wissenschaftler überrascht – immerhin beschäftigt sich das Institut seit über 40 Jahren mit dem historischen und aktuellen Rechtsextremismus. Daß gerade in Westberlin der Rechtsextremismus so stark zugenommen hat, versucht die ZI- Studie mit dem Ende der „Vereinigungseuphorie“ zu deuten: Diese sei im letzten Jahr einer „materiellen Kosten-Nutzen-Analyse“ gewichen. Noch 1990 habe der Rechtsextremismus im Westen schlechte Karten gehabt, weil die Probleme von der Zufriedenheit mit der deutschen Einigung überlagert worden seien. Daß die Befragung im Osten zum selben Zeitpunkt ein rechtsextremistisches Potential von 17 Prozent ergab, führen Falter, Stöss und Winkler neben den wirtschaftlichen und sozialen Problemen vor allem auf die autoritären Strukturen des alten Systems und die Orientierungskrise nach der Wende zurück. Mittlerweile aber hat sich laut ZI- Studie die Situation grundlegend verändert – und mit ihr die alten Erklärungsmuster. Weil viele im Westen die Einheit heute eher als finanzielle Belastung sehen, richten sich ihre Ängste zunehmend gegen Ausländer, Asylbewerber und Übersiedler. So steht laut ZI- Studie Westberlin in puncto Fremdenfeindlichkeit mittlerweile dem Osten in nichts mehr nach und hat mit einem Anteil von zwölf Prozent (1990 in Westberlin noch sieben Prozent) nunmehr gleichgezogen. Auch in der Präferenz für rechtsextreme Parteien widerlegen die Westberliner die These, der Osten sei hierfür weitaus anfälliger: Sechs Prozent der befragten Westberliner gaben an, die „Republikaner“ wählen zu wollen, im Osten waren es nur zwei Prozent. Daten, die laut ZI für den Zukunftspessimismus im Westteil der Stadt sprechen könnten.

Gemeinsam scheint den West- wie Ostberlinern hingegen ein gesellschaftliches Phänomen, das gerade in der letzten Zeit in der Diskussion steht: die Parteiverdrossenheit. So wollen rund 25 Prozent der Ost- und 17 Prozent der Westberliner der nächsten Wahl fernbleiben.

Trotz aller Daten und der überraschenden Ergebnisse – die Frage, warum zwei Drittel aller rechtsextremen oder fremdenfeindlichen Gewalttaten im Ostteil der Stadt verübt werden, konnten die ZI-Forscher letztlich auch nicht befriedigend beantworten. Zwar hoben sie ausdrücklich hervor, daß ein statistischer Zusammenhang zwischen Rechtsextremismus und Gewalt gegen Personen oder Sachen nicht ausgemacht werden konnte und sich bei der Frage nach mittlerer und hoher Gewaltbereitschaft sogar 44 Prozent der Befragten zur Linken und nur 14 Prozent zur Rechten zählten. Warum aber Jugendliche gegen Ausländer und Minderheiten gewaltsam vorgehen, blieb auch den ZI-Forschern unklar. Mehr als Spekulationen konnten auch sie nicht bieten: Die Motive für Gewalttätigkeiten seien vermutlich in der Sozialisation und der Lebenssituation der Täter zu suchen. Severin Weiland