■ Die Anerkennung Kroatiens war nicht der Sündenfall
: Die Emphase des Hypothetischen

Angesichts der Unwägbarkeiten der sich stetig verschlimmernden Lage in Bosnien-Herzegowina wird immer wieder behauptet, die frühe Anerkennung der ex-jugoslawischen Republiken sei falsch gewesen. György Konrád, Peter Glotz, Günther Grass, Jürgen Habermas und viele andere, weniger Prominente haben das Argument, das sich oft noch mit der Entrüstung über die angebliche deutsche Großmannssucht paart, herbeibemüht, und es erhärtet sich allmählich zu einem festen Vorurteil. Erst neulich flüchtete sich in einer Talk-Show der Theologe Hans Küng auf die Frage nach dem religiösen Hintergrund des Krieges auf dem Balkan an die rettenden Ufer der alles verschuldenden zu frühen Anerkennung. Hier liegt auch der Grund für die hartnäckige Langlebigkeit des Scheinargumentes: Eigene Ratlosigkeit hier und heute wird verschleiert durch den Hinweis auf schicksalträchtiges Fehlhandeln anderer in der Vergangenheit, die unerträgliche Tragödie, mit der man täglich konfrontiert wird, wird verdrängt in die unabwendbare Zwangsläufigkeit aus der damaligen Fehlentscheidung und damit die eigene Passivität rechtfertigt. Im Grunde aber wiederholt sich hier die Gleichgültigkeit und Ignoranz, die schon zu Anfang der Krise so eklatant war. Wie gut man überhaupt über die elementarsten Fakten Bescheid weiß, bestätigt Peter Glotz, der neulich in einem Artikel im Spiegel von 600.000 Serben in Knin spricht. Knin am Main! Für Günther Grass wäre – jetzt! – die Lösung in einer Konföderation zu suchen, aber damals, als es aktuell war, haben die Führungen Sloweniens, Kroatiens, Bosnien-Herzegowinas und Mazedoniens sowie der Kosovo-Albaner keinerlei Beachtung – von intellektueller Unterstützung gar zu schweigen – für diese von ihnen ausgearbeitete Lösung gefunden. Alle diese Seufzer über „was wäre, wenn“ verschleiern heute nur, daß weggesehen wird. Aber wenn schon, warum ergibt sich aus dieser Anhänglichkeit fürs Hypothetische keine intellektuelle Arbeit der Schlußfolgerung? Ja, was wäre passiert, wenn die Republiken nicht anerkannt gewesen wären? Da braucht man nicht viel Phantasie: Die sogenannte Jugoslawische Volksarmee hätte sich weiterhin als gesamtjugoslawische Bundesarmee legitimieren können, die Okkupation von Slowenien und Kroatien wäre eine interne Angelegenheit geblieben. Sie hätte sich aus diesen Republiken nirgends zurückziehen müssen, und somit wäre die Grundlage für eine gewaltsame Absetzung der demokratisch gewählten Führungen in allen vier Republiken gegeben gewesen. Wir wissen, daß György Konrád diese Lösung den nichtserbischen Republiken und Völkern leichten Herzens zumuten würde. Aber es ist sehr fraglich, ob diese selbst auf ihr Streben nach Demokratie und Freiheit verzichten würden, nur weil man in Europa diese für eine unpassende nationalistische Selbsttäuschung hält. Daß die Nichtanerkennung Kroatiens den Krieg in Bosnien-Herzegowina verhindert hätte, hat bislang noch niemand bewiesen.

Man könnte freilich auch andere hypothetische Überlegungen anstellen und sie mit dem, was jetzt not tut, verknüpfen. Was wäre, wenn man schon zu Anfang des Konflikts erkannt hätte, daß das serbische Regime keinerlei politische Lösungen anstreben und auch keinerlei akzeptieren würde? Was wäre, wenn man erkannt hätte, daß das serbische politische Programm in dem Willen besteht, das nationale Selbstbestimmungsrecht so auszulegen, daß alles, was man – mal aus diesem, mal aus jenem Grund – für serbisch erklärt, auch zu Serbien gehören soll. Und hätte man sich nicht einen Handlungsspielraum geschaffen, wenn man prinzipiengerecht und pragmatisch zugleich einen europäischen Grundsatz für die Neuordnung der postkommunistischen Ära aufgestellt hätte, wonach es keinerlei „Lösungen der nationalen Frage“ unter Mißachtung der Republikgrenzen und jenseits einer völkerrechtlichen Regelung geben kann, die Rechte von Minderheiten festschreibt und ihre Einhaltung international überwacht. Das alles wurde schon zu Anfang des Konflikts von mehreren Seiten – unter anderem gerade von kroatischen und serbischen Intellektuellen aus Kroatien – vorgeschlagen. Man hätte sich im voraus ein Instrumentarium von Regeln geschafft, dessen, was geht und was – gerade auch aus eigenen Interessen – niemals durchgelassen wird. Ja, man hätte dann die fürs politische Handeln notwendigen Kriterien.

Wer sich vergegenwärtigen kann, daß es zu Srebrenica nicht gekommen wäre, hätte der Westen in Vukovar und Dubrovnik oder spätestens Sarajevo entschlossen gehandelt, wird imstande sein, die Situation und den Handlungsbedarf von heute einzuschätzen. Soll die bosnische Tragödie endlich gestoppt werden, dann müssen sofort wirksame Schutzzonen in allen bedrohten und umkämpften Gebieten geschaffen und einem notfalls militärisch verteidigten Protektorat unterstellt werden. Die Militärexperten der Nato sollen beispielsweise unverzüglich als Berater in das gemeinsame Kommando der bosnisch-moslemischen und kroatischen Streitkräfte geschickt werden, und zwar sowohl in die Hauptstadt als auch nach Mostar, Bihac, Travnik, Zenica und Tuzla, aber auch nach Kroatien. Die unmittelbare Einsicht in die militärischen Operationen und die Koordination mit den UNO-Truppen vor Ort ist unabdingbar für jede Art des weiteren westlichen Engagements und für das Herstellen des elementaren Vertrauens. Der tragische Fall der verwundeten Kinder von Prozor am 22. April ist ein erschütternder Beweis dafür, daß ohne richtige Koordination schon die Überwachung des bosnischen Luftraumes des Gegenteil bewirken kann. An diesem Tag zwangen die Nato-Abfangjäger einen Hubschrauber der kroatischen Armee, von dem genehmigten Rettungsflug nach Prozor zurückzukehren.

Die Folge: Der schwerverwundete elfjährige Mate Sarcevic, der wie sein Bruder Ilija in Prozor nicht ausreichend versorgt werden konnte, starb auf dem mühsamen Landesweg nach Split.

Die Folgen dessen, daß man trotz der formellen Anerkennung alles getan hat, um den Krieg als einen „inneren jugoslawischen Konflikt“ zu behandeln, wirken bis heute. Solche Art Anerkennung, bei der der neue Staat nicht als internationales Rechtssubjekt akzeptiert und mit dem Grundrecht der Selbstverteidigung ausgestattet wird, gab dem Gegner des bosnischen Staates freien Handlungsspielraum. Jetzt ist infolgedessen der bosnische Staat zerstört. Wenn man das noch retten will, was übriggeblieben ist, dann muß man die wenigen freien Territorien und die sich noch wehrenden Gegenden und Städt so behandeln, wie man es von Anfang an mit dem damals noch ganzen Staat hätte tun müssen: als ein eigenes Rechtssubjekt und nicht als das Gebiet des inneren Konflikts in den Überresten der jugoslawischen Leiche. Unter den so zu behandelnden freien Territorien denke ich auch an Herzegowina, nicht nur, weil dessen Führung, trotz schwerwiegender politischer Fehler und wiederholter Ausbrüche semistaatlicher Eigenmächtigkeit, sich immer und auf mannigfache Weise offiziell zum gemeinsamen bosnisch-herzegowinischen Staat bekennt, sondern auch deshalb, weil ohne Herzegowina – unabhängig davon, wie sich die Konfliktsituation in Mittelbosnien weiter entwickelt – die freien Enklaven der bosnischen Moslems vollends zu Homelands werden. Die Kroatenhasser unter Journalisten und Politikern scheinen dies zu oft zu vergessen. Dunja Melćić

Journalistin, lebt in Frankfurt