Vom Recht auf Zensur

Für Wissenschaftler mit Sitzfleisch: Das 5. Filmforum Ethnologie und Dritte Welt in Freiburg  ■ Von Dorothee Wenner

Ein blonder Student kam, als afrikanischer Adliger verkleidet, in wallenden Batikgewändern. Seine Kommilitonin rauchte Pfeife wie eine Hobby-Schamanin, und ein Inuit-Forscher trug auch im kühlen Regen nur ein kurzärmliges T-Shirt, das den Blick auf einen dichten, rotblonden Flaum freigab – wahrscheinlich das Resultat jahrelanger Aufenthalte in der Arktik. Die Ethnologen sind eine unverwechselbare Berufsgruppe, geprägt vom skurrilen Alltag der Feldforschung. Aus Angst davor, sich selbst zum Gespött von Kollegen und Neidern zu machen, werden die lustigsten Anekdoten und Begebenheiten leider in der Regel verschwiegen.

„Wen interessiert es schon, wie ich neben den Kamelen meine Erbsensuppe esse?“ Michael Steineck, Regisseur des Films „Tarhalamat – Die Salzkarawane“, hält nichts von „Spielchen vor der Kamera“ und zählt sich, obwohl eher ein Youngster unter den Ethnofilmern, zur konservativen Clique. Formal bedeutet dieses Selbstverständnis, sich ein bißchen wie Gott hinter einer Kamera zu verstecken, die so tut, als sei sie gar nicht da, um das Leben irgendwelcher bedrohten Völker möglichst authentisch auf Film oder Videokassetten zu bannen. Steineck vertritt eine extreme Position, wenn er solche Bilder dann auch noch in zwei Versionen präsentieren möchte. Eine kurzweilige fürs Fernsehen, eine wissenschaftliche mit Begleitheft, für Ethnologen mit Sitzfleisch. Letztere zeigte er dem Freiburger Publikum, und tatsächlich stampfen minutenlang Kamelbeine durch den Wüstensand und ließen keinen Zweifel daran, daß Steineck „Lawrence of Arabia“ toll findet. Nur, daß die Handlung sich auf Knoten-Künste und Dattelkäufe reduziert.

Traditionell treffen sich alle zwei Jahre im Kommunalen Kino Freiburg Filmemacher, Ethnologen und Cineasten, um fünf Tage lang von morgens bis abends ethnographische Filme zu sehen. Vor idyllischer Öko-Schwarzwaldkulisse wird zwischen den Vorführungen und dann bis tief in die Nacht diskutiert, geraucht, gelästert und ein wenig intrigiert. Das Freiburger Filmforum ist das bislang einzige Festival in Deutschland, das regelmäßig Entwicklungen, Tendenzen und neuen Produktionen des ethnographischen Films eine Plattform bietet.

Ein bißchen aus Geldknappheit, viel mehr aber aus politischer Überzeugung zeigen die Veranstalter ein Programm mit Themenschwerpunkten. So waren in diesem Jahr Patsy und Timothy Asch als Gäste eingeladen. Das Ehepaar zeigte unter anderem seine auf Bali gedrehten Klassiker und eine neue Arbeit, auf Balis Nachbarinsel Flores gedreht. Vor allem für Ethnologiestudenten war es eine ziemlich einmalige Gelegenheit, die filmhistorisch zweifellos wichtige Arbeit und Methodologie der Aschs kennenzulernen. Den Freiburger Ethnologiestudenten wurde diese Chance jedoch verpatzt, weil zur Zeit des Filmforums die obligatorische Museumsexkursion angesetzt worden war.

Was ein blöder Zufall sein mag, paßt als Anekdote gut in ein hierzulande noch sehr verbreitetes Selbstverständnis von Ethnologie. Film und Video werden von wortangebenden Kapazitäten gern ignoriert oder dubiosen „wissenschaftlichen“ Kriterien unterworfen. Die US-amerikanische Anthropologin Sarah Elder war von dieser obsoleten Diskussion ziemlich irritiert. „In den USA verschwindet der Terminus ,wissenschaftlich‘ immer mehr aus der Anthropologie – und ich persönlich kann nur lachen, wenn jemand glaubt, die Lebenswirklichkeit eines Menschen oder einer Kultur mit wissenschaftlichen Maßstäben dokumentieren oder analysieren zu können.“

Vor diesem Hintergrund ist es nach wie vor ein bemerkenswertes Konzept, daß auf dem Freiburger Forum ethnographische Filme über die Dritte Welt bewußt zusammen mit Filmen aus der Dritten Welt gezeigt werden. Schließlich geht es um nichts Geringeres als um das Recht der Ethnographierten auf einen Platz hinter der Kamera. Wenn die konventionellen Genregrenzen zwischen Spiel- und Dokumentarfilm bei der Auswahl für diesen Programmteil keine Rolle spielen, so liegt das nicht allein daran, daß kaum ein afrikanischer Regisseur Dokumentarfilme macht. Anders als viele westliche Filmemacher unterscheidet zum Beispiel Mweze Ngangura aus Zaire die Gattungen nicht nach inhaltlichen oder stilistisch-formalen Kriterien. „Meiner Ansicht nach ist der Unterschied vor allem eine Trennung der Filmproduktion im Hinblick auf den Markt. Bei uns werden Spielfilme für ein Massenpublikum im Kino gemacht, Dokumentarfilme dagegen fürs Fernsehen oder ein zahlenmäßig unbedeutendes Kinopublikum. Für mich als Filmemacher ist dies die einzig relevante Unterscheidung, weil für beide Genres der gleiche Arbeitsaufwand betrieben werden muß.“

Mit dieser Argumentation wird Mweze Ngangura zum Parteigänger avantgardistischer Filmtheorie in Sachen Ethnographie. Wenn nämlich ein Ethnologe „im Feld“ den ganz normalen Alltag in einem ganz normalen Dorf drehen will, muß so etwas wie eine klassische Studioatmosphäre hergestellt werden, um zu diesem Ziel zu gelangen. Die „natürliche“ Reaktion auf ein weißes Filmteam mitten im Dschungel oder in der Wüste ist es sicher nicht, den ganzen Zirkus zu ignorieren und sich desinteressiert vor laufender Kamera dem Arbeitsalltag zu widmen.

Anläßlich des Länderschwerpunktes Zaire waren drei Filme von Mweze Ngangura in Freiburg zu sehen, darunter „La Vie est belle“. Die turbulente Komödie wurde in ganz Afrika zu einem Box-Office-Hit. Es geht um Liebe und Eifersucht, die die betroffenen Damen und Herren mit antidepressiven Aktivitäten erfindungsreich bekämpfen, intensivieren oder erotisch umleiten. Nganguras ins Operettenhafte tendierende Geschichte ist mit erlesenen Boshaftigkeiten und treffenden Seitenhieben auf die postkoloniale High-society von Zaire gespickt. Am gelungensten sind die Szenen, wenn der schneeweiße Mercedes wie ein Gockel im Hühnerstall auftreten darf. Eine Anspielung auf Mobutu, übersetzt: „Der kräftige Hahn, der keine Henne unbesprungen läßt“, den selbstgewählten Namen des Präsidenten Zaires.

Die Perle im Zaire-Programm war ein Film, den ein Haitianer in Belgien gedreht hat. Wie es zu dieser skurrilen Konstruktion kam, erzählt Regisseur Raoul Peck im Kommentar nicht ohne Zynismus. Seine Eltern als französisch sprechende, schwarze Akademiker schienen belgischen Verwaltungsbeamten in den 50er Jahren die geeignetsten Personen, Know-how in die Kolonie zu bringen. So wuchs der Regisseur in Kinshasa auf, dem vormaligen Leopoldville. Mit Archivmaterial und Fotos aus dem privaten Familienalbum rekonstruiert Peck die erste, heiße Phase der Unabhängigkeit bis zum Tod des charismatischen Politikers Patrice Lumumba im Januar 1961. In Zaire zu drehen, das habe ihm sein Fernsehredakteur zwar dringend empfohlen, aber die Behörden ließen ihn nicht. Pecks Bemühungen enden am Schalter der Sabena- Airline. Notgedrungen zeigt der Filmemacher statt dessen Szenen aus dem vorweihnachtlichen Brüssel, während er von der Nacht vor der Ermordung Lumumbas erzählt. Die filmische Notlösung verwandelt sich jedoch unversehens durch eine geschickte Montage zu einem ästhetischen Geniestreich. „Lumumba – la mort d'un prophet“ ist ein Dokumentarfilm, den man lange nicht vergißt, weil er den Sarkasmus und Surrealismus afrikanischer Zeitgeschichte zum cinematographischen Vorteil zu nutzen versteht. Diese Atmosphäre spürt man indirekt auch in „Zaire, le cycle du serpent“ von Thierry Michel. Der belgische Dokumentarist bringt einen Günstling des Diktators Mobutu dazu, sich am Swimmingpool, im Privatjet oder auf der eigenen Kaffeeplantage so vor der Kamera zu produzieren, daß er sich selber und damit die korrupten Machtstrukturen des Landes denunziert. Michel, wiewohl Außenseiter, wagt eine parteiische Perspektive auf den Alltag von Kinshasa. Seine subtile Art der Agitation macht aus dem sehr schön fotografierten Material einen sehenswerten Dokumentarfilm. Als Negativkontrast dazu sei der Film „Ohren am Bauch“ von Wolfgang Bender, Bernd Isecke und Erika Kimmel erwähnt. Ihr Filmportrait des Malers Chéri Samba aktiviert mit gutgemeinter Intention alle Stereotypen des edlen Wilden. Die Freude der Filmemacher über den mittlerweile international erfolgreichen Künstler aus Zaire wirkt so peinlich wie das selbstgefällige Lob eines Lehrers gegenüber einem schwer erziehbaren Kind.

Auf dem Freiburger Filmforum zeigte sich überdeutlich, daß subjektive Nähe (im Unterschied zur wissenschaftlichen Distanz) zu den „Hauptdarstellern“ ethnographischer Filme das wichtigste Beurteilungskriterium geworden ist. Wenn das Verhältnis von Ethnographen und Ethnographierten nicht transparent und zur beiderseitigen Zufriedenheit geregelt wird, fehlt dem Film die Legitimation. Von einer Wissenschaft mit politisch fragwürdiger Provenienz darf erwartet werden, daß der Reflexion über das eigene Tun und Treiben ausreichend Beachtung geschenkt wird. Wie, warum und für wen werden „untergehende“ Kulturen musealisiert oder dokumentiert? Und was genau wird von der modernen Zivilisation „bedroht“?

Sarah Elder, die seit 15 Jahren als Filmemacherin und Anthropologin bei den Inuit in Alaska arbeitet, versteht die Kontrolle der Ethnographierten über ihr Bild in den Medien als eine Voraussetzung für ihre Forschungen. Sie sprach in Freiburg am deutlichsten über die politische Verantwortung der ethnographischen Filmarbeit: „Als ich in den frühen 60ern angefangen habe, ethnographische Filme zu sehen, fand ich die meistens wegen ihres ,Wahrheitsanspruchs‘ äußerst unmoralisch. In unserem Institut in Alaska haben wir in den 70er Jahren systematisch angefangen, gemeinsam mit den Ethnographierten die Filme über sie zu erarbeiten. Nach unseren – auch schriftlich festgelegten – Maximen entscheidet die Gemeinde oder das jeweilige Dorf darüber, wie der fertige Film später einmal aussehen soll. Die Ethnographierten wählen die Interviewpartner aus, die Themen, die Drehorte und schließlich sind sie auch im Schneideraum dabei. Theoretisch steht ihnen auch das Recht auf Zensur zu, aber davon haben die Inuit, über die wir Filme machen, nur sehr selten Gebrauch gemacht. Hinter diesem Konzept verbirgt sich eine einfache Wunschvorstellung, wir möchten die Macht teilen. Meiner Ansicht nach ist das der Schlüsselpunkt: Wenn man einen Film über Menschen macht, muß man irgendwann über Macht reden.“

In der deutschen Ethno-Clique nähert man sich dieser entscheidenden Frage nur langsam, in konzentrischen Kreisen. In diesem Sinn war das Freiburger Filmforum dank der internationalen Impulse eine Spiraldrehung in die richtige Richtung.