Gericht trotzt dem „Gesetz der Notwendigkeit“

■ Die Entlassung der pakistanischen Regierung war „verfassungswidrig“

Neu-Delhi (taz) – Das Urteil der Obersten Richter hat in Pakistans Hauptstadt Islamabad ein politisches Erdbeben ausgelöst. Mit einem Schlag wurde die Übergangsregierung hinweggefegt, die Auflösung des Parlaments durch den pakistanischen Präsidenten rückgängig gemacht und die auf vollen Touren laufende Wahlkampagne annulliert. Premier Nawaz Sharif bezog noch am Mittwoch, dem Tag des Richterspruchs, seine Büros, die er vor sechs Wochen ebenso abrupt verlassen mußte, als Präsident Ghulam Ishaq Khan seine Regierung entließ. Der allerdings brauchte bis zum Abend, um das Verdikt des Obersten Gerichts zu akzeptieren – und damit Gerüchte über eine Ausrufung des Ausnahmezustands zu ersticken.

Sharif hatte seine Klage als Verletzung seiner Grundrechte formuliert: Durch die Entlassung habe der Präsident ihm sein verfassungsmäßiges Recht abgesprochen, eine politische Organisation zu gründen und mit ihr nach einem ordnungsmäßigen Wahlsieg die Regierung zu stellen. So konnte das Gericht sich mit der Rechtmäßigkeit des Eingriffs durch den Präsidenten auseinandersetzen – statt mit den Vorwürfen des Präsidenten. Die Richter kamen zum Schluß, dieser habe seine verfassungsmäßige Macht überschritten, als er am 18. April per Dekret Parlament und Regierung entließ.

In allen sechs Fällen, in denen die Justiz in der Vergangenheit die Rechtmäßigkeit einer Regierungsentlassung zu beurteilen hatte, hatte sie sich der Macht des Realen gebeugt und das inzwischen berüchtigte „Gesetz der Notwendigkeit“ als Begründung herbeigezogen.

Das präzedenzlose Urteil zeigt, daß die Demokratisierung der Institutionen, die seit dem Tod des ehemaligen Präsidenten Zia al- Haq zögernd begonnen hat, nun offenbar auch die dritte Gewalt im Staat erreicht hat. Noch 1990 war Sharifs Vorgängerin Benazir Bhutto vom gleichen Präsidenten mit denselben Vorwürfen der Korruption, des Nepotismus, der Mißwirtschaft in die Wüste geschickt worden, ohne daß die Verfassungswächter daran etwas auszusetzen hatten.

Da die Rechtslage identisch war, ist das Urteil vom 26. Mai nicht nur ein juristisches, sondern auch ein politisches. Dies wird noch dadurch unterstrichen, daß die Richter die juristische Basis von Khans Verhalten zurückwiesen. Der „Achte Verfassungszusatz“ ist ein Relikt aus der Zeit der Militärdiktatur, mit dem sich General Zia al-Haq hinter einer demokratischen Fassade die Verfügungsgewalt über gewählte Regierungen vorbehalten hatte. Dieser Artikel hatte die Konfrontation zwischen Premierminister und Präsident überhaupt erst ausgelöst. Sharif hatte ihm vor einem halben Jahr den Kampf angesagt.

Der juristische und politische Sieg Sharifs bedeutet allerdings noch nicht das Ende des Zweikampfs. Sharif hat seine Entlassung nicht nur zum Anlaß einer Kampagne gegen die Macht des Präsidentenamtes gemacht, sondern auch gegen Khan persönlich.

Beobachter zweifeln daran, daß die beiden Politiker weiterhin zusammenarbeiten können. Der Präsident muß sich Ende dieses Jahres der Wiederwahl durch das Parlament stellen, kämpft daher um seine Haut – und wird diese teuer verkaufen wollen.

Die 88 Parlamentarier, die sich auf seine Seite geschlagen hatten, können, zusammen mit der oppositionellen „Pakistan Peoples' Party“ (PPP) von Benazir Bhutto, die Regierung beim nächsten Mißtrauensvotum in die Minderheit versetzen. Drei Provinzregierungen werden dem präsidentiellen Lager zugerechnet.

Es ist aber keineswegs gesichert, daß die PPP weiterhin dem Präsidenten die Stange hält, nachdem sie nun plötzlich ihre Felle – die Aussicht auf einen Wahlsieg – davonschwimmen sieht. Benazir Bhutto hatte viele Anhänger ihrer Partei vor den Kopf gestoßen, als sie sich opportunistisch mit ihrem Erzfeind Khan verband, und dazu noch in der Auseinandersetzung um die Machtstellung des Präsidenten, welche die Partei seit langem bekämpft. Sie steht nun geschwächt da.

Selbst die Armee, bisher der wichtigste Bundesgenosse des Präsidenten, ist für ihn kein sicherer Wert mehr. Der Oberkommandierende der Streitkräfte hat in den letzten Wochen mehrfach versichert, daß diese das Urteil des Gerichts respektieren würden.

Solange die nun zu erwartende politische Schlammschlacht nicht in eine ernsthafte Instabilität des Staatswesens abgleitet, wird die Armee die Rolle eines aufmerksamen Zuschauers beibehalten. Bernard Imhasly