Gesucht: Der „katastrophenfreie Reaktor“

Mit Heilsversprechungen sucht die Atomgemeinde den Weg aus der Krise / Doch nicht einmal auf dem Papier existiert der deutsch-französische Reaktor  ■ Aus Köln Manfred Kriener und Gerd Rosenkranz

Köln (taz) – Draußen: Demonstranten. AKW-Gegner beglücken jeden Passanten mit seinem ganz persönlichen durchschnittsdeutschen Bröckchen „Atommüll“: 150 Kubikzentimeter. „Am besten, Sie graben in ihrem Garten ein 2.000 Meter tiefes Loch und verbuddeln das dann“, wird empfohlen, „oder in der Badewanne zwischenlagern“.

Drinnen: Demonstranten. Atom-Sektierer Dietrich Schwarz von den Vereinigten Elektrizitätswerken Dortmund verteilt Flugblätter, in denen er der eigenen Branche Mutlosigkeit vorwirft, weil sie nicht hartnäckig genug das Atomspalten forciere. Kernenergie sei ethisch geboten, weil durch die fossilen Brennstoffe „ganze Kontinente ökologisch zerstört werden und ein Sterben von vielen Millionen, wenn nicht Milliarden Menschen“ die unausweichliche Folge sei.

Draußen und drinnen: Same procedure as every year. Aber nicht ganz, die Durchhalteparolen der Atomfreunde wirken kraftloser, ihre Perspektiven haben sich weiter verschlechtert. Die Zahl der Reaktoren geht weltweit zurück, und auch im eigenen Lande ist nach wie vor kein neues konkretes Atomprojekt in Sicht. Allenfalls ein Phantom: der „sichere Reaktor“, von Siemens gemeinsam mit den AKW-Weltmeistern aus Frankreich konzipiert. Sein Name: European Pressure Reactor (EPR).

Die Reaktorhersteller Siemens und Framatome propagieren den 1.500-Megawatt Supermeiler seit eineinhalb Jahren mit einem großen Versprechen: In dem neuen Druckwasserreaktor soll selbst die Kernschmelze, der dramatischste denkbare Unfall, „beherrschbar“ sein. Auswirkungen außerhalb der Anlage soll es nicht mehr geben, Katastrophenschutzpläne und Evakuierungen würden sich erübrigen. Die frohe Botschaft hat sich schnell herumgesprochen. Der Bundesumweltminister, die Union, die FDP, Teile der SPD und die Bergbau- und Chemiegewerkschaft plappern wortgetreu die Vorgaben des Hauses Siemens nach.

Das Problem für die Hersteller: Die Politiker haben sie allzusehr beim Wort genommen. Was sich die industriellen Nuklearpropagandisten als wohlfeiles Argument und Köder für die Öffentlichkeit ausgedacht hatten, droht mehr und mehr zur unabdingbaren Genehmigungsvoraussetzung für künftige Reaktoren zu werden.

Jetzt befürchtet die Branche ein Eigentor. Siemens-Direktor Wulf Bürkle erklärte in Köln, man definiere mit den französischen Freunden gegenwärtig erst die „sicherheitstechnischen Grundlinien“ des neuen Reaktors. Mit anderen Worten: Man plant die Planung. Daß es darüber mit den Partnern einen erbitterten Streit gibt, ist ein offenes Geheimnis. Die Franzosen verlangen Abstriche bei der Auslegung gegen Flugzeugabstürze und auch beim technischen Kern des Siemens-Versprechens von der Kontrollierbarkeit der Kernschmelze. Jenseits des Rheins mag man nicht einsehen, warum „übertriebene“ deutsche Sicherheitsanforderungen in einem Reaktor eingebaut werden sollen, von dem niemand weiß, ob er in Deutschland jemals gebaut wird.

Deshalb äußern sich die EPR- Verfechter inzwischen eher blumig über die Eigenschaften des Supermeilers, der offiziell ab 1998 dies- und jenseits des Rheins parallel errichtet werden soll. Der Reaktor sei „auf gutem Wege“, beteuerte Bürkle, er werde eine „neue Qualität der Sicherheit“ aufweisen. Zweifel sind angebracht, denn das deutsch-französische Ei des Kolumbus soll nicht nur sicherer werden als alle laufenden Anlagen, sondern auch noch billiger.

Deutlicher als Bürkle wurde Bayernwerk-Vorstand Eberhard Wild: Ihn ärgere inzwischen, daß „wir soviel über einen Reaktor reden, den wir noch gar nicht kennen“. Und: Die Beherrschung der Kernschmelze müsse weiter „das Ziel sein, aber wie wir das technisch machen, kann ich heute noch nicht sagen“.

Ernst Hagenmeyer, Vorstandsmitglied der Energieversorgung Schwaben, hat sich schon mal über den idealen Zeitpunkt Gedanken gemacht, um den EPR aus dem Hut zu ziehen. „Wenn die Klimadiskussion zu dem Punkt kommt, daß alle Gutwilligen sagen, es geht so nicht weiter, dann muß das Angebot eines sehr fortschrittlichen Reaktors vorliegen, dann folgt die öffentliche Einsicht von allein.“ Auch in Köln hat die Branche also die Klimakarte gezogen. Eine eigene Session beschäftigte sich ausschließlich mit der Treibhauskatastrophe: „Kernenergie kann einen hervorragenden Beitrag zur CO2- Verminderung leisten“, empfahl Referent Georg Dumsky von den Isar-Amperwerken.

Heftiger als sonst fiel die Beschimpfung der Schwellen- und Drittweltländer aus. Tenor: Vor allem deren Bevölkerungswachstum und Energieverbrauch sei für die Bedrohung des Weltklimas verantwortlich. Nicht der maßlose Energiehunger der Industrieländer, deren 25-Prozent-Anteil der Weltbevölkerung doppelt soviel Energie konsumiert wie der Rest der Welt, sondern die ungezügelte Fruchtbarkeit der armen Länder wird zum Hauptproblem gemacht. Ein eigenes Referat war der „erschreckenden Entwicklung“ in den Ländern China und Indien gewidmet, die sich schon jetzt erdreisten, ein Drittel beziehungsweise ein Sechstel des amerikanischen Ausstoßes an Klimagasen in die Atmosphäre zu blasen. Wenn die Entwicklung so weitergeht, empörten sich die Referenten, werden diese Länder womöglich schon zu Anfang des nächsten Jahrtausends die Hälfte des bundesdeutschen Pro-Kopf- Energieverbrauchs erreichen.

Am Eröffnungstag waren die Bonner Konsensgespräche diskutiert worden. Auch hier zeigten sich wichtige Verschiebungen. Nach dem Tod des Veba-Chefs Klaus Piltz klopfen die Hardliner wieder den Takt. Für Jochen Holzer vom Bayernwerk ist es unabdingbar, daß am Ende der Konsensgespräche ein atompolitisches Gesamtpaket unter Einschluß des Baus neuer Atomkraftwerke geschnürt wird. Von den „Einzel- Bausteinen“, die Piltz favorisiert hatte, also einer vom künftigen AKW-Zubau unabhängigen Lösung für die laufenden Meiler und für die Entsorgung, ist nicht mehr die Rede. Die Branche will vor allem die weitere Zukunft sichern. Sie lechzt nach neuen AKW, und der Bonner Umweltminister sekundiert: „Die Option für neue Kernkraftwerke muß konkret eröffnet werden.“

Auffällig waren die ungewohnten Streicheleinheiten für die SPD. Da wird der baden-württembergische Umweltminister Schäfer überschwenglich für seine Genehmigung des AKW Obrigheim gelobt („das hat die CDU in fünfviertel Jahren nicht geschafft“), da freut sich Töpfer, daß Gerhard Schröder die Endlager Konrad und Morsleben „politisch streitlos gestellt“ habe, da hofft selbst Atomstratege Holzer, daß der Dialog nach der nächsten Bundestagswahl „Früchte tragen wird“. Der Hauch einer großen Koalition lag über der Kölner Versammlung.

Sollte die SPD aber auf Ausstiegskurs bleiben und die Konsensrunde scheitern, dann kann sich Holzer auch ein anderes Szenario vorstellen: „Ich habe verschiedentlich die Formel gehört, wenn wir nicht nachgeben, vollzieht sich der Ausstieg in Raten und ungeordnet. Ich will das nicht verkennen. Aber dann soll dieser ungeordnete Ausstieg von denen verantwortet werden, die ihn herbeiführen wollen.“