Paragraph 218: Wut über das Jahrhunderturteil

■ FDP-Frauen: "Rolle des BVG neu definieren" / SPD-Frauen: "Jetzt Verfassung ändern"

Fassungslos und wütend waren sie gestern alle, Frauen wie Männer, die ihre Stellungnahmen zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts abgaben. Bis auf Bernd Neumann, den CDU-Landeschef, der dadurch „die Glaubwürdigkeit des Grundgesetzes gestärkt“ sieht. Die Grünen in Niedersachsen haben den Spruch der sieben Richter und einen Richterin als „Jahrhunderturteil“ bezeichnet. „Klassenjustiz“ ist für sie, daß der Kontostand künftig bestimmen wird, ob Frauen sich einen Schwangerschaftsabbruch leisten können vgl. Seiten 2, 3, 10).

Frauensenatorin Sabine Uhl, die für Bremen an der Urteilsverkündung in Karlsruhe teilgenommen hatte, reagierte wütend und empört: „Jetzt kommen die Engelmacher wieder.“ Eine perversere Form der Ausbeutung von Frauen könne sie sich nicht vorstellen. Das Urteil sei „ein Triumph der katholischen Kirche und selbsternannter Lebensschützer“, betonte die Pastorengattin. Angesichts dieser Entmündigung von Frauen wäre es nur konsequent, „wenn uns jetzt auch noch das allgemeine Wahlrecht aberkannt“ würde.

Frauen würden wieder zu Gebärmaschinen, meint Rita Martens, Frauenbeauftragte im Krankenhaus-Ost. Ihre Kollegin im Krankenhaus St. Jürgenstraße, Ruth Böke, sieht Schwangerschaftsabbrüche sarkastisch zu einem „Luxus wie Busenrichten“ verkommen. „Zynisch und frauenverachtend“ nannte auch Merve Pagenhardt (die Pressesprecherin des Innensenators) für die Bundesvereinigung „liberale Frauen“ das Urteil. Der Weg zu einer Neuregelung, die durch verbesserte Lebensbedinungen Schwangerschaftsabbrüche verhindern hilft, sei damit „versperrt“, erklärte die FDP in Bremen. Nun müsse diskutiert werden, ob die Rolle des Bundesverfassungsgerichtes anders definiert werden muß. Silke Keubler vom FDP-Landesvorstand: „Für uns in Bremen kommt es jetzt darauf an, bestehende Einrichtungen wie Pro Familia und deren Arbeit zu sichern.“

Die MitarbeiterInnen von „Pro Familia“ in Bremen, wo seit Jahren offene Beratung und Abbruch unter einem Dach stattfinden, werteten das Urteil als „politischen Angriff auf unsere Arbeit.“ Ihr Zentrum werde auch weiterhin „alles tun“, um Frauen in der Situation einer ungewollten Schwangerschaft „mit Rat, Hilfe und medizinischem Angebot“ zur Seite zu stehen, so Thomas Jürgens und Hanna Staud-Hupke. Doch zunächst müsse das Urteil juristisch geprüft werden. Da nach bisherigen Informationen die Trennung von Abbruch und Beratung mit dem Ziel „materieller Bereicherung“ verknüpft scheint, lasse sich — eingebunden in ein entsprechendes politisches Umfeld — das bisherige Konzept vielleicht fortsetzen.

Abtreibungen künftig nur für Reiche

Maren Schubert-Stadler, Gynäkologin und kritische Ärztin der „Liste Gesundheit“, sieht durch das Urteil ihre ärztliche Tätigkeit zutiefst beeinflußt. Sie habe nie anders als offen beraten. Wenn das Beratungsziel vorgegeben ist und sie „die Frauen überreden muß“, sei dies keine Beratung mehr. Die Ärztin: „Wie soll ich ohne Gesetzesverankerung eine ordentliche Medizin machen?“

Maria Spieker, grüne Bürgerschafts-Abgeordnete, suchte gestern nach einer Möglichkeit, das Urteil („Ein Rückfall ins Mittelalter“) auf die Tagesordnung der Bürgerschaft zu bringen: Dies ist aber kaum möglich. Für eine 'Aktuelle Stunde' ist das Thema bei der nächsten Sitzung zu alt, und Beschlüsse des Landesparlaments zum BVG-Urteil sind nicht möglich. Die SPD-Frauen haben noch

Frau auf

Gyn.-Stuhl

ein winziges Schlupfloch entdeckt: „Nun muß das Recht auf selbstbestimmte Schwangerschaft in die Verfassung“, so Gerda Lehmsiek, Vorsitzende der ASF.

Einen entsprechenden Vorstoß hatte die Bundesfrauenkonferenz der SPD zur Ergänzung von Artikel 2 im Sommer 1992 auch mehrheitlich beschlossen. Bürgermeister Claus Wedemeier erklärte der taz, daß er diese Initiative in der Verfassungskommission auch unterstützen werde — auch wenn er ihr kaum Erfolg ausrechnet: „Es ist die einzige Chance.“ Hennig Scherf, Justizsenator und ebenfalls Mitglied dieser Kommission, hält ein solches Vorhaben, wenn auch bedauernd, für völlig aussichtslos, da die beiden verbleibenden Sitzungen bereits vollends mit kritischen Fragen „überfrachtet“ seien. Birgitt Rambalski