Gestern hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe zum zweiten Mal eine neue gesetzliche Regelung der Abtreibung für teilweise verfassungswidrig erklärt. Wie schon 1975, als ein Gesetz der sozialliberalen Koalition gekippt wurde, ist auch jetzt Abtreibung wieder als rechtswidrig erklärt worden, soll allerdings unter bestimmten Voraussetzungen nicht verfolgt werden. Zahlen muß jede Frau zukünftig selbst.

Legal, illegal, teuer: Abtreibung in drei Klassen

Karlsruhe (taz) – „Bereuet eure Sünden und ändert euren Sinn“, so lautet die frohe Pfingstbotschaft seit bald 2.000 Jahren. Und so könnte auch die Pfingstbotschaft der Karlsruher Apostel lauten, gestern der geneigten Bevölkerung einer vereinigten Bundesrepublik verkündet. Denn zumindest für Frauen in den ostdeutschen Bundesländern bringt das vom Bundesverfassungsgericht verkündete Urteil zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs nur negative Veränderungen. Die neue Fristenregelung ist sozusagen „durch“ – gleichzeitig ist sie verfassungswidrig.

Mit sechs zu zwei Stimmen erklärten die Karlsruher Richter plus Richterin die neue Fristenregelung mit Beratungspflicht, die letztes Jahr vom Bundestag mehrheitlich verabschiedet worden war, für verfassungswidrig. Bonn ist also aufgefordert, das Abtreibungsrecht erneut zu bearbeiten. Doch das Karlsruher Urteil ist vielschichtig. Denn trotz der kundgetanen Verfassungswidrigkeit hielt das Gericht die von SPD und FDP konzipierte Neuregelung des §218 für so ausgereift, daß sie, versehen mit entscheidenden Änderungen, ab 16. Juni als „Karlsruher Übergangsregelung“ in Kraft treten wird.

„Das wird kein schöner Tag für mich werden“, meinte der Frankfurter Jurist Erhard Denninger schon am frühen Morgen vor Beginn der Urteilsverkündung. Doch seine dunklen Vorahnungen wollte der Rechtsvertreter der Bundestagsmehrheit vor der Verhandlung noch nicht darlegen. Pünktlich um halb zehn kündigte ein Herr in blauer Livree „das hohe Gericht“ an. Mann und Frau im überfüllten BesucherInnensaal erhoben sich.

Nach Auffassung der sechs Richter Hans Hugo Klein (56, CDU und Vater von zwei Töchtern), Klaus Winter (56, CDU und Vater von zwei Töchtern), Konrad Kruis (62, CSU und Vater dreier Kinder), Paul Kirchhof (49, parteilos, von der CDU nominiert, Vater vierer Kinder), Ernst-Wolfgang Böckenförde (62, parteilos, von der SPD nominiert, Vater dreier Kinder) und der Richterin Karin Graßhof (55, parteilos, von der SPD nominiert, Mutter zweier Söhne) kann es nicht angehen, daß Abtreibungen per se „nicht rechtswidrig“ sind, wie es das neue Gesetz formuliert. Außerdem halten sie den §219, der Form und Ablauf der Beratung näher regelt, für nicht ausreichend und daher für verfassungswidrig.

Gesetzliche Krankenkassen sind allerdings verpflichtet, nur „nicht rechtswidrige“ Leistungen zu bezahlen. Mit der Feststellung, daß der Staat Abtreibung grundsätzlich mißbilligen, sie daher also als „rechtswidrig“ bezeichnen muß, schreibt das Karlsruher Urteil damit fest, daß ein Schwangerschaftsabbruch innerhalb der Frist von 12 Wochen mit vorher absolvierter Beratung künftig nicht von der Krankenkasse finanziert wird. Hier – und da zeigt sich, wie skurril Karlsruher Entscheidungen sein können – sieht Richter Böckenförde allerdings eine Härte für Frauen, die nicht sein müßte. Er plädiert in einem Sondervotum dafür, die Krankenkassenfinanzierung weiterhin gesetzlich zu sichern. Ansonsten schließt er sich der Meinung der anderen Richter plus Richterin an. Einzig die derzeit noch oberste rote Robe Karlsruhes, Ernst Gottfried Mahrenholz (63, SPD und Vater zweier Kinder), sowie Bertold Sommer (55, SPD und Vater zweier Kinder) halten die vom Bundestag verabschiedete Fristenregelung mit Zwangsberatung für verfassungskonform. Ihre abweichende Meinung begründeten sie auf 28 Seiten in einem Minderheitenvotum.

Über sage und schreibe 183 Seiten erstreckt sich hingegen die Urteilsbegründung der Karlsruher Richtermehrheit. Und darin beschließt sie, daß ab 16. Juni künftig eine Übergangsregelung im Abtreibungsrecht gelten wird. Danach sind Schwangerschaftsabbrüche weiterhin grundsätzlich verboten. Dennoch wird eine Frau nicht bestraft, wenn sie, nach vorheriger Beratung, innerhalb der ersten 12 Wochen abtreibt. Darüber hinaus muß die Beratung ausdrücklich dem Schutz des ungeborenen Lebens dienen. In der Beratung muß, und das fügten die Karlsruher unter anderem dem Gesetz hinzu, der Frau bewußt gemacht werden, „daß das Ungeborene in jedem Stadium der Schwangerschaft ... ein eigenes Recht auf Leben hat und daß deshalb ein Schwangerschaftsabbruch nur in Ausnahmesituationen in Betracht kommen kann“. Wie schon 1975 schwingt sich die Karlsruher Richterschaft damit zu einer Instanz auf, die nicht nur Gesetze prüft, sondern sie auch – übergangsweise – erläßt.

Vor allem für die Beratungspraxis fordert das Karlsruher Urteil weitgehende Veränderungen. Erst wenn die BeraterInnen eine Konfliktberatung für abgeschlossen halten, soll die erforderliche Bescheinigung für den legalen Abbruch ausgestellt werden. Außerdem müssen BeraterInnen stets an die „Appellfunktion“ ihrer Arbeit denken: Immerhin gilt es, die Frau zum Austragen der Schwangerschaft zu ermutigen. Abtreiben darf nur diejenige, die sich in einer „Ausnahmesituation“ befindet, welche die Fortsetzung der Schwangerschaft „unzumutbar“ macht.

In monotonem Singsang trug Berichterstatter Klaus Winter die Auslassungen zur Beratung vor – und sie erstrecken sich in der Urteilsbegründung über Seiten. Ein wenig Euphorie hätte ihm, der schon im Dezember vehement gegen die Kassenfinanzierung eingetreten war, schon angestanden. Immerhin hat sich Karlsruhe – auch das sicher ganz in seinem Sinne – auf die staatliche Überprüfung von Beratungsstellen geeinigt. Danach muß der Staat regelmäßig prüfen, ob und welche BeraterInnen tatsächlich im Sinne der gesetzlichen Regelungen Schwangerschaftskonfliktberatungen vornehmen dürfen. Bis Ende 1994 dürfen Beratungsstellen weiterhin arbeiten wie bisher, dann soll die Kontrolle greifen.

Daß die Beratung mit diesen und mehr Auflagen verbunden wird, wertete Erhard Denninger als Nachteil, auch wenn sich über die Auflagen noch streiten ließe. Eine Niederlage für die Bundestagsmehrheit sieht der Verfassungsrechtler auch in der Streichung der Formulierung „nicht rechtswidrig“. Dafür würde künftig im Gesetz stehen, Abtreibungen seien nicht strafbar, „aber damit entfällt die Krankenkassenfinanzierung“. Dennoch, das Gericht ist in der Frage der Bestrafung außerhalb des Strafrechts gespalten: Muß eine Frau aufgrund einer Abtreibung für einige Tage von der Arbeitsstelle fernbleiben, so bleibt die Lohnfortzahlung bestehen. Auch ärztliche Folgeuntersuchungen nach einer Abtreibung müssen weiterhin von den Krankenkassen bezahlt werden.

„Letztlich“, so Erhard Denninger, „gibt es ab dem 16. Juni Schwangerschaftsabbrüche erster, zweiter und dritter Klasse.“ Da weiterhin medizinische und eugenische Indikation gelten, könnte eine Frau, sollte ihr Leben oder das des Embryos in Gefahr sein, wie bisher problemlos und mit Kassenfinanzierung abtreiben – nach Denninger die Abtreibung erster Klasse. Da Karlsruhe keine eindeutige Stellungnahme zur sozialen Indikation abgab, könnten diese Indikationen, zumindest in der Zeit der Übergangsregelung, von ÄrztInnen ausgestellt werden: der Abbruch zweiter Klasse, denn es bleibt bei der Kassenfinanzierung, es bleibt hintenrum bei der Indikationsregelung. Und zu guter Letzt die heißumkämpfte Fristenlösung mit Beratungszwang: für Denninger die Abtreibung dritter Klasse. Eine Abtreibung, für die frau künftig in die Tasche greifen muß, nachdem sie sich der Beratungsgängelei gestellt hat. flo