Eine ganz normale deutsche Stadt, eine ganz normale deutsche Straße, ein ganz normales Fachwerkhaus: Saime Genc, Hülya Genc, Gülüstan Öztürk, Hatice Genc und Gürsun Ince sind tot. Aus Solingen berichtet Julia Albrecht

Solingen, Untere Werner Straße 81

Wenn die Empörung schon so oft formuliert wurde, wenn Lichterketten die Menschen auf die Straße trieben, um neue Gewalttaten zu verhindern, wenn ungezählte Diskussionen geführt wurden und Zynismus am falschen Ort ist, dann kann man eigentlich nur noch schweigen. Auch in Solingen herrschte an dem Vormittag nach dem Brandanschlag dieses Schweigen. Nicht das es keine Laute gäbe, daß nicht sogar gebrüllt wurde. Es wurde laut, als der Innenminister Rudolf Seiters am Samstag mittag zum Tatort kam. Die Menschen hinter den rot-weißen Absperrbändern der Polizei, in sicherer Entfernung zum vollkommen ausgebrannten Haus, entluden ihre wilde Empörung über den Anschlag mit lautem, ununterbrochenem Gepfeife. Später, gegen Abend, gab es auch Megaphone. Zumeist in türkischer Sprache wurden Reden gehalten, wieder und wieder unterbrochen von refrainartig wiederholten Sätzen, die dem Faschismus in Deutschland ein Ende und der internationalen Solidarität einen Anfang wünschten. Und dennoch. In Solingen herrschte Schweigen. Ein tiefes Schweigen, was nichts mehr zu sagen weiß zu dem Unsäglichen.

Die Stadt, in der in der Nacht vier Menschen verbrannten und eine Frau bei ihrem Sprung aus dem Fenster ums Leben kam, ist in Bewegung. Aus allen Richtungen ziehen Gruppen entweder zur Hauptkreuzung der Stadt, um an dem Demonstrationszug teilzunehmen oder in die Untere Werner Straße, wo sie jenseits der polizeilichen Absperrungen auf die verkohlten Reste des Hauses blicken. Auch wenn die Polizei keinerlei Auskünfte erteilt, auch wenn man noch nichts weiß über den Tathergang – man sieht mit eigenen Augen, daß die Opfer des Anschlags in dem Haus ohne die Spur einer Chance verbrannten. Eine kleine Gruppe türkischer Jugendlicher streitet am Rande der Absperrung laut und erbost auf türkisch. Es geht um die Gewaltfrage. Wie bereits nach Mölln, als auch Ralph Giordano für die Selbstbewaffnung und -verteidigung sprach, überlegt man auch hier, die körperliche Unversehrtheit nicht länger dem Staat anzuvertrauen, sondern sie selber und mit eigenen Mitteln zu schützen, zu verteidigen und zu rächen.

An diesem Vormittag wird auch der Kanzler in Solingen erwartet. Im Unterschied zu Mölln wolle er selbst herkommen, heißt es, und er wird sehnlichst erwartet. Man will, daß das Schweigen gebrochen wird. „Es muß jemand herkommen und mit den Leuten sprechen, Vertreter der deutschen und der türkischen Regierung, hohe Vertreter“, sagt Takgoz Sabahattin, der seit 29 Jahren in Köln wohnt. Statt des Kanzlers kommt – wie auch in Mölln – Innenminister Rudolf Seiters. Er trägt Trauerkleidung: „Ich kann nur meine tiefe Bestürzung und Fassungslosigkeit zum Ausdruck bringen. Es handelt sich um einen Anschlag, um eine Brandstiftung, um ein Verbrechen. Dies ist eine Schande, weil es hier gleichsam um einen Anschlag geht auf wehrlose Menschen, wehrlose, friedliche Mitbürger, und einen allgemeinen Anschlag auf die innere Sicherheit unseres Landes. Ich bringe meine ganz tiefe und die tiefe Anteilnahme der Bundesregierung zum Ausdruck gegenüber den Betroffenen, aber auch gegenüber den mittelbar Betroffenen, den vielen ausländischen Mitbürgern, die hier leben. Wir werden alles tun, damit die Täter gefaßt werden und damit eine unnachgiebige und abschreckende Härte des Rechtsstaates deutlich wird. Es gibt in Deutschland niemand das Recht gegen Deutsche oder gegen Ausländer. Ich finde dies alles ganz schrecklich, und ich sage noch einmal: Ich bringe meine ganz tiefe Bestürzung und Anteilnahme zum Ausdruck.“

Das ausgebrannte Haus liegt in der Unteren Werner Straße 81 in Solingen, einer 165.000-Einwohner-Stadt, mit über 20.000 Ausländern, wovon rund 6.000 Türken sind. Auch die, die nicht da waren, haben das Haus im Fernsehen gesehen, wissen, wie es liegt, ahnen, wie es einmal ausgesehen haben mag. Spitzdach und nach vorne zweigeschossig, Fachwerk im obersten Geschoß, Holzkonstruktion also. Das Ganze an einem Hügel gelegen, weswegen man die weiteren zwei Geschosse in die Tiefe nach hinten nicht sieht. Alles, auch der Anbau, ist vollständig ausgebrannt. Einzige Überreste: ein paar Wäschestücke auf der Leine in der Tiefe. Neben dem Eingang an der Straße auf einem kleinen Betonsockel stehen Einmachgläser mit nichts als schwarzem Ruß. Darauf Beschriftungen wie: „Teppichprobe Eingangsbereich“. In den Fenstern drei Blumensträuße und türkische Fahnen. Durch den Freiraum zum benachbarten Haus der Blick ins „Bärenloch“. So der Name der großen Wiese mit den angrenzenden Wäldern direkt hinter dem Haus, wo der Hubschrauber mit Seiters gelandet ist, wo, nach Auskunft von Anwohnern, deutschen und türkischen, des öfteren rechtsradikale Jugendliche gesehen wurden, sogar paramilitärische Übungen abgehalten worden sein sollen.

Aber an diesem Samstag sagt der Inhaber des türkischen Restaurants „Effendi“, daß es nach seinem Wissen in Solingen keine rechtsradikale Szene im eigentlichen Sinne gegeben habe. „Natürlich“ gab es auch hier einige Jugendliche, die mit kurzen Haaren, Spingerstiefeln und rechten Sprüchen durch die Straßen zogen, aber niemanden, dem man diesen Mordbrand zugetraut habe. „Es hat in Solingen so gut wie keine Probleme gegeben in den letzten zwei Jahren. In Solingen war es ausgesprochen ruhig, wir waren darüber sehr glücklich“, meint Oberstadtdirektor Ingolf Doibel. Auch die stellvertretende SPD- Bürgermeisterin Erika Rotstein betont, daß es bisher keine Anschläge gegeben habe und man sich darüber glücklich geschätzt habe.

In dem Haus in der Unteren Werner Straße 81 in Solingen verbrannten drei Mädchen und zwei Frauen. Die älteste war 27 Jahre alt. Gürsun Ince starb, als sie mit ihrem Kind im Arm, dem vierjährigen Jungen Saime Genc, aus dem Fenster sprang. Die anderen verbrannten im Haus: Hülya Genc, Schwester von Saime, neun Jahre alt; Gülüstan Öztürk, der aus der Türkei zu Besuch gekommen war, zwölf Jahre alt, und die 18jährige Schwiegertochter der Familie, Hatice Genc. Weil die Bundesanwaltschaft und das Bundeskriminalamt die Ermittlungen an sich gezogenm haben und ihre bisherigen Erkenntnisse nicht kundtun, vorgeblich, um dem Ermittlungszweck nicht zu schaden, kann nicht berichtet werden von bestimmten Personen, von ihrer sozialen Herkunft – wir wissen nur, daß die Familie seit über zwanzig Jahren in Deutschland lebte, daß das Haus ihnen gehörte und daß das Familienoberhaupt in der Brandnacht nicht zu Hause war, weil er in der Fabrik arbeitet. Von der Bürgermeisterin ist zu erfahren, daß eines der Mädchen, eine 16jährige Gymnasiastin, die mit schwerem Schock im Krankenhaus liegt, Besuch von einer deutschen Schulfreundin und ihrer Mutter erhalten hat. Der Umstand, daß es eine deutsche Freundin ist, findet Betonung.

Die Namen der in Mölln ums Leben Gekommenen haben wir wieder vergessen. Statt dessen haben wir uns den Namen einer Stadt eingeprägt, der nun steht für ein Verbrechen und für eine bestimmte Stimmung in Deutschland. So wie vorher schon Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und Hünxe merken wir uns Städte und nicht Menschen. Jetzt werden wir uns wieder den Namen einer Stadt einprägen. Solingen wird sich eingliedern in die Reihe von Ortsnamen, an denen Verbrechen gegen Ausländer verübt wurden. Und es sind Verbrechen gegen „Ausländer“, nicht etwa gegen „türkische Mitbürger“, eine schmeichlerische Bezeichnung, die ebenso freundlich klingt, wie sie verlogen ist. Die Bundesrepublik verwehrt den Ausländern die Mitbürgerschaft. Selbst wenn es demnächst eine vorläufige doppelte Staatsbürgerschaft geben sollte – so wird sich doch an dem Grundsatz nichts ändern, daß Deutscher ist, wer nach seinem Blute deutsch ist. So verwundert es auch nicht, daß ein Türke, der vor dem Haus in der Unteren Werner Straße steht, auf die Frage, ob er sich die deutsche Staatsangehörigkeit wünsche, antwortet: „Nein, niemals! Wenn ich meine Adern aufschneide, kommt dort türkisches Blut raus, daran wird sich auch nichts ändern.“

Zwei Tage später, am Montag, hat sich Solingen verändert. Das Haus ist zur Grabstätte geworden. In dicken Büscheln liegen Blumen und Sträucher auf dem Bürgersteig. Die Fenster im Erdgeschoß sind mit Pappe zugestellt. Auf eine Fensterbank sind kleine Babyschuhe gestellt worden. Kinderteddys sitzen auf einem Straßenschild vor dem Haus. Überall stehen Kerzen, rote und weiße Teelichter. Die Transparente, die neulich noch auf der Demonstration getragen wurden, sind nun vor die Fenster gehängt worden, viele mit türkischen Aufschriften, einige deutsch: „Ist das die Belohnung für die 30 Jahre?“, „UN-Truppen nicht nach Kuweit, sondern nach Bosnien und Solingen“.

Auch die Stimmung in Solingen ist umgeschlagen. Die Spuren der Nacht sind weithin sichtbar. Zerbrochene Scheiben überall, ausgespart die türkischen Läden, Imbisse und Restaurants. Vor der Ruine erregt diskutierende Türken. Es geht um die Gewaltfrage: „Diesmal gab es nur Sachschäden“ wiederhohlt ein Mann ein ums andere Mal, und das ist eine Drohung. Ein anderer: „Die deutschen Behörden bieten 100.000 Mark Belohnung für die Ergreifung – wir zahlen eine Million Mark pro Kopf.“

Bei der türkisch-islamischen Moschee in der Innenstadt sind die Ansichten ganz anders. „Wir haben die Leute in der Moschee aufgefordert, keine Gewalt auszuüben. Wir sind bis tief in der Nacht auf der Straße gewesen und haben mit den Jugendlichen gesprochen, nichts zu machen. Sie sollen in die Moschee kommen. Wenn jemand gestorben ist, dann soll man sitzen und trauern und nicht Randale machen“, sagt ein Mitglied der Gemeinde, Josef Gazaleh.

An diesem Tag, zwei Tage nach den Morden, bleibt auch von dem Eindruck, daß es keine Vorzeichen gegeben habe, daß Solingen eine bis dato friedliche Stadt gewesen sei, nichts mehr übrig. Gazaleh berichtet, daß am 8. April 1993 ein Feuer in der arabischen Moschee gegeben habe. Dabei wurde die Moschee weitgehend zerstört. Kurz darauf erfolgte die Kündigung. „Jetzt will uns niemand neue Räume zur Verfügung stellen. Wenn sie hören: Moslems – dann wollen sie davon nichts wissen.“ Vor einer Woche soll ein türkisches Geschäft gebrannt haben, und am Samstag, dem Morgen nach den Morden, fand der ehemalige Vorsitzende der arabischen Gemeinde sein Auto als einziges von vielen auf einem großen Parkplatz mit eingeschlagenen Fenstern. Aber man ist vorsichtig mit allzu schnellen Schuldzuweisungen. Man weiß noch nicht, wer die Täter waren. So auch im Fall des zehnjährigen polnischen Mädchens, die in Solingen vor rund zwei Wochen ermordet wurde. Man weiß nicht, ob die Täter aus der rechten Szene kamen.

Und dann, immer wieder, an jedem Ort der Stadt, wo Menschen miteinander diskutieren, der Verdacht, daß die Feuerwehr nicht rechtzeitig kam. Nach einigen Aussagen kam sie erst nach einer halben Stunde, nach anderen kam sie zwar unverzüglich, hatte aber keine Sprungtücher oder keine Leiter dabei. Die offizielle Version sieht anders aus. Danach war die Feuerwehr vier Minuten nachdem der Alarm ausgelöst wurde vor Ort, mit allem drum und dran. Welche Version richtig ist, wird sich herausstellen müssen, das Mißtrauen der türkischen Bevölkerung allerdings ist groß. Sie mißtrauen den deutschen Institutionen. Sie haben den Eindruck, daß man Türken wie die Tiere – nein schlimmer als die Tiere – in Deutschland absichtlich verbrennen läßt. Beispiele werden erzählt. Von einer deutschen Katze, die sich auf einem Haus verklettert hatte und die Feuerwehr unverzüglich in Aktion trat. Von einem Brand eines deutschen Familienhauses in Essen, wo ein türkischer Vater und sein Sohn unverzüglich in das Haus liefen, um zu retten. Der Verdacht geht um, man habe die Menschen in der Unteren Werner Straße absichtlich verbrennen lassen. Man versteht nicht, weshalb sie unbemerkt und ohne Hilfe verbrennen konnten. Julia Albrecht, Solingen