■ Solidarpakt zu Lasten der nächsten Generation
: Vereint gegen die Nachkommen?

Ein Kind, das zu dieser Stunde in Deutschland geboren wird, steht mit 40.000 Mark in der Kreide. Diese Schulden hat der Staat bereits auf die Zukunft eines jeden Ungeborenen genommen. Das Kind, das in dieser Stunde zur Welt kommt, hat Eltern und Großeltern mit erheblichen Rücklagen auf den Sparkonten. Denn die Schulden der öffentlichen Haushalte wurden ja bei ihnen aufgenommen. Privater Reichtum – beileibe nicht aller, aber doch immer noch der meisten in diesem Land – und öffentliche Armut. Der private Reichtum wird verkonsumiert. An Investitionen in die Zukunft, die sich nicht schnell auszahlen, wird gespart.

Nirgendwo ist der private Reichtum augenfälliger als in einem Kinderzimmer. Die Stofftiere, die sich bei dem Neugeborenen bald angesammelt haben werden, wird das Kind erst am Ende des ersten Schuljahres zählen können. Das Rechnen im Zehnerraum reicht nicht aus für die Inventur. Privater Reichtum – und öffentliche Armut! Denn ob das Kind, das heute geboren wird, einen Kindergarten- oder Hortplatz bekommen wird, ist fraglich. Der deutsche Städtetag erklärt, daß die für 1996 gesetzlich festgeschriebene Kindergartenplatzgarantie nicht eingelöst werden kann. Wir erinnern uns, das war ein flankierendes Gesetz, mit dem sich der Bundestag die Novellierung des Paragraphen 218 erleichtert hat.

Aber die 23 Milliarden Mark für 600.000 Plätze, Gesetz hin – Gesetz her, sie sind nicht da, sagt der Städtetag. In manchen Großstädten werden nun schon die Preise für den Kindergartenplatz erhöht. Fast 800 Mark werden besserverdienende Eltern, keineswegs Großverdiener, demnächst zahlen müssen: 800 Mark, damit ein Kind bis in den Nachmittag im staatlichen Kindergarten betreut wird und mit anderen Kindern zusammen sein kann – was für die Einzelkinder, die Mehrheit, bitter nötig ist.

Auch an Schulen soll gespart werden. Es werden wieder mehr Kinder in einer Klasse sitzen, obwohl jeder weiß, daß unsere Schulen als Unterrichtsanstalten kaum noch funktionieren. Man müßte sich entschließen, aus Schulen Lebensräume für Kinder zu machen. Lebensräume in einer oftmals verödeten Stadtlandschaft. Erst wenn Schulen Lebensräume werden, dann wird auch der Unterricht wieder besser klappen. Das weiß man, aber was tut man? Die Schulzeit soll verkürzt werden. Die Taktzeit des Lernens wird heraufgesetzt. Man möchte sagen, wie bei VW am Band. Aber VW führt ja die Gruppenarbeit ein, baut Hierarchien ab und kommt weg vom Einzelkämpfer, den die Schulen liefern und den VW immer deutlicher beklagt.

Auch in der Weiterbildung, soweit die Bundesanstalt für Arbeit sie finanziert, wird jetzt dermaßen grob gekürzt, daß ganze Einrichtungen aufgelöst werden müssen.

Und die Hochschulen? Sie sind tatsächlich in einer Verfassung, „daß einem nur noch schlecht werden kann“. Das sagte der Präsident der Rektorenkonferenz, Prof. Erichsen, kürzlich beim vornehmen Villa-Hügel-Gespräch in Essen. Auf deutsch: Es ist zum Kotzen. Zwei Studis drängeln sich auf einem Studienplatz. Statt des anstehenden Aufschreis bei den Studentinnen und Studenten, statt einer ordentlichen Explosion – nichts als Implosion. Die Naturwissenschaftler wissen, was das heißt, Implosion: Zerstörung nach innen. Zusammenbruch. In die Hochschulen investiert unsere Gesellschaft gerade jämmerliche 0,9 Prozent des Bruttosozialproduktes. 1977 waren es immerhin noch 1,3 Prozent. Seitdem ist die Zahl der Studenten um mehr als 70 Prozent gestiegen.

Die Kultur nicht nur der Hochschulen, die Kultur unserer Bildungseinrichtungen geht kaputt, wenn diese von ihren materiellen Voraussetzungen her nicht endlich in die Lage versetzt werden, ihren kulturellen Auftrag zu erfüllen. „Das Kind ist in den Brunnen gefallen, und das Kind ist tot“, sagte Dieter Simon über die Hochschulen, als der Vorsitzende des Wissenschaftsrates zu Jahresbeginn aus seinem Amt schied. Wer den Juristen Simon kennt, der weiß, daß er solche Plakatsätze nicht so dahinsagt, weil er sich an Weltuntergangsvisionen berauscht.

Die Gesellschaft, nicht nur die Politiker, da sollten wir es uns nicht zu leicht machen, die Gesellschaft bricht dauernd den Generationenvertrag. Dieser ungeschriebene Vertrag besagt zunächst, daß die Erwachsenen für die Kinder sorgen, damit sich die Kinder später revanchieren. Die Generation, die jetzt zwischen 30 und 60 Jahre alt ist, sie wird bald als riesengroße Gruppe der Alten auf eine kleine Gruppe von Jüngeren angewiesen sein. Derzeit reicht das Rücklagenpolster der Rentensicherung 2,6 Monate. Am Ende dieses Jahres wird die Rücklage auf weniger als die Hälfte geschrumpft sein. Dann hält es nur noch 1,1 Monat, erklärt der Präsident der Bundesversicherungsanstalt. Der Generationenvertrag ist eine empfindliche Konstruktion.

Werden einst die Jüngeren den Generationenvertrag einlösen, den ihre Eltern heute nicht ernst nehmen? Erwachsene, die Stofftiere verteilen, statt eine Infrastruktur zu schaffen, die Bildungsprozesse ermöglicht? Der Generationenvertrag ist nicht nur ein Pakt gegenseitiger Sorge. Zur nachwachsenden Generation steht die Gesellschaft in exakt der gleichen Beziehung wie zu sich selber. Vertrauen zu sich oder Vertrauen in die Zukunft folgen jeweils der gleichen Grammatik. Vertrauen oder eben: „nach uns die Sintflut“, „die Mutation“ – wie auch immer?

So gesehen mit wem und gegen wen schließt derzeit die politische Klasse in diesem Land ihren Solidarpakt? Solidarpakt der um ihre Macht fürchtenden Politiker? Ein Pakt zur Ausblendung weitgehender Zeitdimensionen, also auch der Gedanken an die nachwachsenden Generationen? Ein Pakt derer, die sich demnächst vor Fernsehkameras wieder über den Gewalthunger und über die Gefühlskälte vieler Jugendlicher bestürzt zeigen werden? Man kann über dieses Thema nicht lange ohne Wut oder ohne Bestürzung nachdenken. Ja, es kann einem schlecht werden, wie dem Präsidenten der Rektorenkonferenz. Prof. Erichsen hat deshalb erklärt, wenn die Prioritäten nicht anders gesetzt werden, dann solle der Bundeskanzler allein auf seinen Bildungsgipfel steigen, auf dem die Zukunft der Hochschulen, der Bildung, ja – so heißt es – des „Standortes Deutschland“ besprochen werden soll.

Seit einem Jahr schiebt Kohl den angekündigten Bildungsgipfel nun wie eine Wanderdüne vor sich her. Jetzt soll der Gipfel im September genommen werden. Dieser aufgeschobene Bildungsgipfel gleicht inzwischen einer sozialen Skulptur, an der Joseph Beuys seine Freude gehabt hätte: Die Debatte über Bildung, also über das Verhältnis der Gesellschaft zur nachwachsenden Generation, ist unausweichlich, das sieht selbst der Bundeskanzler. Aber sie wird aufgeschoben. Vielleicht, weil der Blick vom Gipfel ein angstmachendes Panorama zeigen wird? Reinhard Kahl

Fachjournalist Bildung, siehe auch taz-Dossier „Hilfe, wir vergreisen“ vom 30.4.93, Seiten 30–32, und den gestrigen Debattenbeitrag „Endstation Notstand“ des Präsidenten der Carl-v.-Ossietzky-Universität Oldenburg, Michael Daxner