„Schweigemärsche hört man nicht“

Eine Stadtverwaltung flüchtet sich in rege Organisationstätigkeit — um nicht denken zu müssen an den Wahnsinn, der sich bei ihr abgespielt hat.  ■ Aus Solingen Michaela Schießl

Die Familie Genc hat die Trauerfeier in Solingen ohne Begründung abgesagt. Noch in der Nacht zuvor hatten Vertreter der Stadt zusammen mit dem Familienoberhaupt die makabren Einzelheiten des Zeremoniells abgesprochen, von der Podesthöhe über die Reihenfolge der prominenten Redner, den Blumenschmuck bis zu dem genauen Platz, wo die Särge stehen sollten. Fünf Mitglieder der türkischen Familie werden darin liegen. Sie sind die jüngsten Opfer eines Brandanschlages Rechtsradikaler auf ein türkisches Wohnhaus. Wie in Mölln wurden die Türken mitten in der Nacht angezündet, schlafend, in ihrem eigenen Haus. 1962 waren die ersten Familienmitglieder zum Arbeiten nach Deutschland gekommen. Nun leben noch 16 von 21. Ein Säugling und ein 15jähriger schweben in Lebensgefahr.

Gleich nach dem Anschlag wurde der Rest der türkischen Familie in ein Hotel im Stadtteil Solingen-Burg gebracht. Eine deutsche Lösung, die wenig geeignet war für türkische Trauer. Nach einem Tag bat die Familie um einen Raum, wo sie Tag und Nacht zusammenbleiben können. Die Stadt gab den Gencs zwei nebeneinanderliegende Wohnungen in einem stadteigenen Neubau. Sie sind die einzigen Bewohner. In das Haus sollte ursprünglich ein Asylbewerberheim. „Vielleicht kommen jetzt Obdachlose rein“, sagt die Pressereferentin der Stadt, Frau Wenning.

Fieberhaft ist sie damit beschäftigt, die Bonner Politprominenz umzuleiten nach Köln, wo die große Trauerfeier stattfinden soll. Offenbar war dies der Wunsch der türkischen Regierung. Köln ist Sitz einer großen islamischen Gemeinschaft, dort gibt es eine für derartige Anlässe angemessene Moschee. Die Trauerfeier soll am Donnerstag stattfinden, wahrscheinlich nach dem offiziellen Trauerakt der Stadt Solingen. „Bei uns werden weder die Familie noch die Särge da sein“, sagt Frau Wenning. Dafür wird um 11 Uhr der sozialdemokratische Oberbürgermeister Kaimer vor dem Rathaus sprechen und der Iman der türkischen Gemeinde, der die Familie Genc angehört.

Die Stadtverwaltung der 170.000-Einwohner-Stadt flüchtet sich in rege Organisationstätigkeit, um nicht denken zu müssen an den Wahnsinn, der sich abgespielt hat vor ihrer Haustür. „Es kommt mir so irrsinnig zufällig vor“, sagt Frau Wenning. Tatsächlich ist Solingen mit seiner rot-gelb-grünen Regierung kein idealer Nährboden für Rechtsradikalismus. Nicht mehr als 25 bis 30 namentlich bekannte Leute zählen zur rechten Skinhead-Szene.

So profiliert war die Solinger Skin-Szene immerhin, daß sich eine Frau ihrer annahm. Erika Konrad, eine Pfarrersfrau, arbeitet seit drei Jahren mit rechtsradikalen Jugendlichen. Der Name ihres Pilotprojekts: „Sozialarbeit mit Jugendlichen aus der rechtsradikalen Szene“. Begonnen hat sie das Unternehmen Skin-Bekehren, als 1989 eine Diskothek in einem evangelischen Jugendhaus überfallen wurde. Doch vor einem Jahr erst hat Erika Konrad das örtliche Jugendamt von ihrer Arbeit in Kenntnis gesetzt: „Ich habe das lange verschwiegen, damit es nicht heißt, die Kirchen klüngeln mit den Rechten. Und weil die meisten Leute nicht verstehen können, warum man mit denen überhaupt redet. Für die normale Bevölkerung sind das Schweine. Für mich sind das immer noch Menschen.“ Nie hätte sie geglaubt, daß einer ihrer großmäuligen Menschen tatsächlich gewalttätig werden könnte.

Solange nicht, bis das Gericht einen von ihnen überführte. Er hatte einen tamilischen Asylbewerber angegriffen. Nun fürchtet die 57jährige, daß ihre Schützlinge auch mit dem fünffachen Mord in Solingen in Zusammenhang stehen könnten. Doch wer der Sechzehnjährige ist, den der Generalbundesanwalt Alexander von Stahl unter dringendem Tatverdacht hat festnehmen lassen, weiß bislang noch niemand.

Immerhin sollen die Skins aus Solingen gute Beziehungen nach Wuppertal haben, wo die rechtsradikale Szene als äußerst stark und gut organisiert gilt. Doch echte Sorgen hat dieser Tatbestand der Solinger Polizei nicht bereitet. Die Aktivitäten der Neonazis gingen schließlich kaum über das mittlerweile übliche Maß hinaus. Mehrfach wurde die Polizei alarmiert, als Neonazis hinter Gencs Haus Wehrsport trieben, im „Beerenloch“, einer zum Naherholungsgebiet aufgeforsteten Kippe. Über und über sind die dortigen Spielplätze mit Nazisymbolen bemalt. Wenn die Polizei kam, saßen die Skinheads friedlich herum. Wer die Symbole und Parolen angeschrieben hatte, war nicht nachzuvollziehen.

Die Polizei zog ab, die Schmiererei ging weiter. Vor zwei Monaten verschärfte sich die Lage: zwei Moscheen brannten, ein türkischer Lebensmittelladen wurde abgefackelt. Doch die Polizei wiegelte ab. „Die unterstellten uns, daß verfeindete Türkengruppen die Moschee angezündet haben“, berichtet Haya Usak, Mitglied der türkischen Wohlstandspartei, deren Moschee angezündet wurde. Dem Besitzer des Lebensmittelgeschäftes wurde gesagt: „Das waren bestimmt die Penner.“ Die Polizei, sie wollte die Vorzeichen nicht sehen.

Deshalb, so Usak, kann er auch die unbändige Wut verstehen, die die Stadt nun erschüttert. Auch in der zweiten Nacht nach dem Anschlag zogen etwa 2.000 Menschen, vorwiegend junge Türken, durch die Straßen Solingens, warfen die paar Scheiben, die von der Vornacht übriggeblieben waren, ein. In türkische Fahnen gehüllt, skandierten sie „Nazis raus, es lebe die Türkei, Türkei, Türkei.“ Autokorsos rasten die Konrad-Adenauer- Straße rauf und runter, die rote Fahne der Türken flatterte aus den Fenstern. Sobald Scheiben klirrten, griff die Polizei ein, auch der Autokorso wurde bald gestoppt. Bereitschaftspolizisten aus dem gesamten Ruhrgebiet trieben den harten Kern der Demonstranten gegen 23 Uhr auf der Hauptkreuzung zusammen. Nach einer Stunde zogen sich die Polizisten zurück, die Lage entspannte sich. Tatsächlich war es nur selten zu Schlägereien gekommen. Die Demonstration lebte von der Bewegung.

Von den einheimischen Türken waren an diesem Abend nur noch wenige beteiligt. „Das wollten wir nicht, diese Zerstörung und Randale“, sagt Usak. Türken aus dem gesamten Umkreis waren gekommen, manche von weit her. Stärke wollen sie demonstrieren, damit sich ab sofort jeder Skinhead genau überlegt, ob er noch mal Türken verbrennen will. „Wenn die Politik nicht eingreift, greifen wir ein“, lautet das Credo der Demonstranten.

Unterstützt werden sie von anderen Ausländern in Solingen und Umgebung, Spaniern, Griechen, Portugiesen, Italienern. „Hier geht es nicht um die Türken. Diese Attentate richten sich gegen alle Ausländer“, sagt ein portugiesischer Jugendlicher, geboren in Solingen. „Erst die Türken, und dann kommen wir. Das lassen wir uns nicht gefallen.“

Selbst die Solinger Bevölkerung hat, trotz der Zerstörung ihrer Konsumtempel in der Innenstadt, Verständnis für die Aktionen der Ausländer. „Wir sind zutiefst schockiert, was hier vorgefallen ist, und können die Wut und Trauer verstehen. Aber warum müssen sie unsere Scheiben einschlagen?“ sagt die Besitzerin eines Spielzeuggeschäftes. Diejenigen, deren Scheiben es nicht getroffen hat, halten ohnehin zu den Türken. „Höchste Zeit, daß sich jemand wehrt.“

Selbst die Polizei findet zu fortgeschrittener Stunde verständnisvolle Worte für die türkischen Jugendlichen. „Ihr habt Recht, euch zu wehren, ihr habt Recht, Druck auszuüben. Ihr habt Recht, daß die Politiker schuld sind. Aber warum mit Gewalt?“

Der 24jährige Mehmet A., Student der Elektrotechnik, weiß warum. „Schweigemärsche hört man nicht. Wir müssen Randale machen, damit die Welt reagiert. Kein Politiker, kein Kamerateam, kein ausländischer Journalist würde kommen, wenn wir nicht anfangen zu schreien, zu randalieren und zu toben.“

Tatsächlich packen die Türken dort zu, wo es den Deutschen am meisten schmerzt: am Eigentum, am Auto. Auch gestern wieder sperrten sie für mehrere Stunden die Autobahn ab, unterstützt von der Polizei, die ihrerseits dicht machte, damit keine weiteren Unterstützer in die Stadt gelangen konnten.

„Die Menschen müssen merken, daß wir nicht wehrlos bleiben“, sagt Dangir. Nach Mölln haben die Türken in Deutschland ohnehin den Glauben an den Rechtsstaat verloren. „Die Politiker treiben das Volk dazu, uns anzugreifen, und bestrafen die Täter dementsprechend milde. Da bekommen Mordbrenner einen Staranwalt gestellt, widerrufen kurzerhand ihr Geständnis und waren auf einmal nicht mehr zurechnungsfähig. Ein paar Jahre Knast, dann sind die wieder draußen“, klagt Mehmet die Politiker an. Und immer wieder wird eine Drohung offen ausgesprochen: „Wenn sich eine solche Gerichtsbarkeit in Solingen wiederholt, werden wir selber handeln.“

„Aber seid ihr besser?“ fragt ein Grieche. Ihm ist die nationalistische Tendenz der Demonstrationen zuwider, die vielen türkischen Fahnen und das „Türkei-Türkei- “Geschrei. „Was soll euer eigener Nationalismus?“ Das, findet Mehmet, sei etwas völlig anderes. „Für uns bedeutet die Fahne das Zuhause, ein gemeinsames Dach über dem Kopf, Heimat, Zusammengehörigkeit. Das hat nichts mit Menschen verbrennen zu tun. Unser Nationalismus ist nicht zu vergleichen mit dem Nationalismus der Neonazis, wir ehren Ausländer, andere Sitten und Gebräuche.“ Deshalb sei es auch unmöglich, daß sich die Türken gegenseitig die Moscheen anzünden.

Doch ganz so friedlich, tolerant und homogen ist die türkische Realität in Deutschland nicht. Am nachmittag kam es vor der abgebrannten Ruine in der Unteren Werner Straße zu tätlichen Auseinandersetzungen zwischen den kurdischen Kommunisten der PKK und den rechtsextremistischen „Grauen Wölfen“.

Allein in Solingen gibt es fünf verschiedene Moscheen, wo sich jeweils Anhänger bestimmter Glaubensrichtungen zum Gebet treffen. Von dem staatsnahem islamisch-türkischen Kulturverein über die ebenfalls demokratischen, aber doch erheblich stärker auf den Islam ausgerichtete Wohlstandpartei bis hin zu Fundamental-Islamisten iranischer Prägung und den kommunistischen PKK- Aktivisten.

Graue Wölfe jedoch sind in Solingen nicht organisiert, sie haben, ebenso wie die Skinheads, eine starke Vertretung in Wuppertal. Die türkischen Gruppen in Solingen leben nach Mehmets Aussage weitgehend friedlich nebeneinander her. Selbst zwischen Kurden und Türken bestehen enge Freundschaften, solange die Kurden nicht der gehaßten PKK angehören.

Eine Unverschämtheit sondergleichen, eine Geschmacklosigkeit und Ungeheuerlichkeit ist für Mehmet, daß die Kommunisten den fünffachen Mord in Solingen zum Anlaß nehmen, sich in der Öffentlichkeit zu profilieren. „Kein Wunder, da müssen ja die Grauen Wölfe kommen, schon als Gegengewicht.“ Haya Usak sieht das anders: „Die sollen draußen bleiben, die Kommunisten und Faschisten. Wir trauern hier um unsere Toten. Und wir trauern, was aus Solingen geworden ist.“

Bis um zwei Uhr nachts dauert diese zweite Randale-Nacht von Solingen. Zum Zapfenstreich spendieren die Polizisten den türkischen Jugendlichen noch eine Sprite, nicht ohne ihnen zu sagen, daß sie sich nun endlich beruhigen sollen. Schließlich, aber das soll keine Entschuldigung sein, metzeln sie dort unten in der Türkei ja auch die Kurden nieder. „Das ist nicht zu vergleichen“, antwortet ein Türke. „Fest steht, wir morden keine Kinder.“

Am nächsten Morgen ist der Alltag nach Solingen zurückgekehrt. Die öffentlichen Verkehrsmittel fahren wieder, die Straßen sind wieder freigegeben, die Bürgersteige voller Menschen. Die Pappen, die die Fenster ersetzen, sind beschriftet: „Glasschaden“, steht auf einem, und „Der Verkauf geht weiter, jetzt viele Angebote“. Das wirkliche Leben hat die Solinger wieder. Vor der Dresdner Bank saugt ein riesiger Staubsauger die letzten Glasscherben auf, überall werden neue Scheiben eingesetzt.

Die Stimmung in der Stadt ist nicht gedrückt. „Doch, das ist ein Wahnsinn, der hier abgeht“, sagt eine Seniorin. „Doch die Türken haben nicht damit angefangen. Wir sind es, die sich schämen müssen.“ Forsch dreht sie sich um zu dem Handwerker, der hinter ihr eine Glasscheibe einsetzt. „Machen Sie bloß noch kein Glas rein, guter Mann. Das geht heute abend wieder los.“