SPD-Basis im Altenheim: Demokratie - Wow!

■ Alle schimpfen über die Parteidemokratie – die SPD praktiziert sie. Die taz war dabei: Dienstagabend im Distrikt Altona-Nord.

Eine rote Straßenschranke quer über die Altonaer Thadenstraße signalisiert dem Fremdling: Achtung – hier beginnt sozialdemokratische Vor-Ort-Politik! Mir gehen an jenem halbwegs lauen Frühsommerdienstagabend die Augen über vor Zeichen sozialdemokratischen Wirkens: Mutige Verkehrspolitik (Straßensperrung, Radstreifen!), solide Sanierungspolitik mit frischen SAGA-Fenstern (Instandhaltungsversprechen eingelöst!) und ein soziales Bataillon fester und sauberer roter Backsteingebäude: das Gelände des Reventlow-Stifts. Die Jagd nach den Quellen der Demokratie verspricht Erfolg.

Zielstrebig lenkt der Reporter, heute abend Jäger eines verlorengeglaubten Schatzes, seine Schritte zum properen neugebauten „Festsaal“ im Herzen des Altenheimkomplexes. Demokratie pur ist angesagt. Die 240 Mitglieder des SPD-Distrikts Altona-Nord sind zur „Kandidatenaufstellung für Bezirksversammlung und Bürgerschaft“ geladen. Der Einladungstext schwärmt vom „im Gegensatz zur CDU vorbildhaft demokratischen Wahlverfahren“ und verspricht: „Wer richtige sozialdemokratische Positionen vertritt, gute Arbeit geleistet hat und im Distrikt vor Ort verankert ist, dessen Wahl steht nichts im Wege.“

Gartenblumen in Wassergläsern, bequeme gepolsterte Stühle und 44 SozialdemokratInnen – der Sitzungssaal erstrahlt in einem wundersamen Dreiklang von Idylle, Seßhaftigkeit und Kegelclubtreue. Gerührt läßt sich der 38jährige Reporter mit „junger Mann“ als „Gast“ eintragen, der hinein darf, weil, so Demokrat und Wissenschaftssenator Leonhard Hajen, „wir nichts zu verbergen haben“. Und: „Du zweifelst doch nicht an unserer Demokratie? Auf Ortsvereinsebene ist sie noch in Ordnung. Wir haben das 130 Jahre geübt.“

Nein, ich staune nur. Ein herzwärmender Abend: Da wird Solingen gestreift, kurz Böses über die Hamburger Verfassungsrichter ausgekippt und dann so richtig zur Sache gegangen: Wann soll die kommunale Radtour am 15. Juni zum Tag des Ortsvereins starten? Problem diesmal: Es muß noch Zeit bleiben, um im Kreisbüro die Wahl zwischen Schröder, Scharping und Wieczorek-Zeul zu treffen. Für Butterkuchen ist gesorgt! Und wer kocht Kaffee? Wo kann Karla die Briefwahlunterlagen für die gehbehinderte Genossin nebenan abholen? Alles wird zu bester Zufriedenheit geklärt. RentnerInnen, mittelalte Akademiker und ehrgeiziges studentisches Jungvolk mit solider Karriere-Planung – die außerordentlich gut besuchte Distriktsversammlung bietet für jeden etwas.

Sogar Wahlen. Freilich: So viele Wahlgänge, so viele Wahlverfahren! 20 der anwesenden 44 Stimmberechtigten werden heute noch mit irgendeinem Amt bedacht werden. Kaum jemand im Saal blickt so richtig durch. Wie gut, daß der Vorstand die ingesamt 7 Wahlzettel fein säuberlich vorbereitet hat. Wie praktisch auch, daß der Vorstand die Reihenfolge bereits festgelegt hat und es in keinem Fall mehr Kandidaten als Plätze gibt. So kann niemand leer ausgehen.

Ein kleines bißchen hat die widerliche öffentliche Debatte über Parteienverdrossenheit, Diäten und Demokratiedefizite allerdings auch in diese Insel althergebrachter Demokratie hineingeschmutzt: Nach mehreren Nachfragen wird der Versammlung plötzlich klar, daß sie zum Beispiel bei der Kandidatenaufstellung für die Bezirksversammlung für jeden Listenplatz einzeln abstimmen muß, der Vorstand pro Platz aber nur einen Vorschlag gemacht hat. „Na, so ganz demokra-

1tisch ist das nicht,“ wundert sich einer meiner Nachbarn. Und so geschieht das Undenkbare: Auf Platz zwei kandidiert plötzlich ganz unprogrammgemäß Kurt Schröder, Frisch-Sozi aus der Stresemannstraße, gegen den vorgesehenen braven Jurastudenten Thomas Schweitzer. Die Versammlung votiert mit 34 zu 4 für Schweitzer. So bleibt alles im Lot. Schließlich breitet sich tiefe Zufriedenheit aus: Man ist schon um 23 Uhr fertig! In Altona-Altstadt, diesem fürchterlichen Chaotendistrikt, saßen sie um halb Eins noch da!

„Nein“, so versichert mir Leonhard Hajen, „einen derart lebendigen und harmonischen Distrikt findest Du so schnell nicht noch einmal.“ Einer meiner Nachbarn fragt mich, immer noch unsicher, nach

1dem Wahlverfahren. Ob die Leute, die heute abend gewählt wurden, auch gewählt seien? „Nein“, so kann ich ihn beruhigen. Eine Findungskommission, die Kreiswahlkonferenz – und bei den Bürgerschaftsabgeordneten auch noch der Landesvorstand und der Landesparteitag dürfen aufpassen, daß die Basis nicht aus Versehen gegen die weisen Beschlüsse der internen Machtzirkel und Vorstandsfunktionäre verstoßen hat.

Zufrieden verläßt der taz-Reporter diesen traditionsreichen Hort der Demokratie. Verfassungsrichter und Politikverdrossenheit haben hier niemanden aus der Bahn geworfen. Diese Demokratie ist stabil. Wie sagte Berufspolitiker Hajen doch: „Das haben wir 130 Jahre lang geübt.“ Florian Marten