„Nur ein Stündchen noch“

Nach 30 Jahren fand sich das Negativ von Orson Welles' „Othello“ wieder an  ■ Von Gerd Midding

Die große theatralische Geste, ins Kino übertragen, passionierte ihn. Weil ihm, wie François Truffaut schrieb, alles Kleinliche verhaßt war, hat es ihn immer wieder aufs Neue gereizt, Shakespeare-Dramen zu verfilmen. Hier fand er die Heftigkeit der Emotionen wieder, die den Gestus seines Spielens und seiner Regie beflügelten. „Othello“ erzählt von den Ausschweifungen der Eifersucht, des Neids, des Hasses; kühn hat Orson Welles die Herausforderung Shakespeares angenommen, was ihm 1952 die „Goldene Palme“ in Cannes einbrachte. 30 Jahre lang galt das Negativ des Films als verschollen, bis es in einem Lagerschuppen in New Jersey aufgespürt und frisch restauriert werden konnte.

„I am not what I am“, verkündet der Fähnrich Jago (Michaél Mac Liammóir), als er sich anschickt, das Netz seiner Intrige zu spinnen, in dem er seinen Herrn Othello (Welles) fangen will. Dieser in Venedig noch triumphierende Feldherr und unanfechtbarer Liebender, ist alsbald auf der Festung Magodor Jagos Doppelzüngigkeit schutzlos ausgeliefert. Ein Taschentuch, von Desdemona (Suzanne Cloutier) achtlos beiseite geworfen, wird zum Unterpfand seiner Eifersucht und fällt über sie das Todesurteil.

Schon die Eröffnungssequenz, der Trauerzug für die toten Liebenden, läßt keinen Zweifel am tragischen Ausgang des Dramas. Irritierend schnell wechseln die Blickwinkel der Kamera; auch ein Jahrzehnt nach „Citizen Kane“ geht es Welles noch um nicht weniger, als jede Einstellung mit einer neuen, frappierenden Idee auszufüllen. Extreme Unter- und Obersichten akzentuieren Macht und Ohnmacht der Gefühle. Die weiten, hohen Räume der Festung, ihre von gleißender Sonne beschienenen Brüstungen, die Balustraden und Innenhöfe Venedigs lassen die Handelnden verloren, machtlos wirken. Kein Augenblick, in denen ihnen belebte Natur Ruhe und Glück verspräche, unnachgiebig konfrontiert sie Welles allein mit steinernen Wänden.

Die Inszenierung behauptet eine Momumentalität, mit der das Budget der Produktion kaum je mithalten konnte. Überhaupt bedurfte es einer heroischen Geste, diesen Film überhaupt erst in Angriff zu nehmen, und einer doppelt heroischen, ihn fertigzustellen. Es fanden sich keine Geldgeber in den USA; dort schreckte man vor einem Film mit einer schwarzen Hauptfigur zurück. Welles fungierte als sein eigener Produzent und trieb die Produktionsgelder auf, in dem er Hauptrollen in Filmen anderer Regisseure übernahm. Oft genug machte er sich deren Drehpläne zunutze, verlegte kurzerhand seine eigene Produktion an deren Drehorte in Rom, Venedig, Marokko und anderswo.

Schon im Sommer 1948 hatte er begonnen zu drehen, war jedoch mit seiner Besetzung unzufrieden. Drei Desdemonas sollte die Produktion im Laufe der nächsten Jahre verschlingen und sogar vier Jagos. (Zeitweilig war James Mason für die Rolle im Gespräch, Mac Liammóir, der Welles in den frühen Dreißigern sein erstes Bühnenengagement verschafft hatte, bringt indes eine homoerotische Note ins Verhältnis zwischen Jago und Othello.) Wegen der häufigen Drehunterbrechungen war Welles gezwungen, Darsteller, die mittlerweile andere Verpflichtungen hatten, durch Doubles zu ersetzen (was sicher die überraschend häufigen Rückenansichten wichtiger Figuren erklärt).

Die Geldknappheit stachelte Welles' Improvisationsgenie und auch das seines Ausstatters Alexandre Trauner an: Als die versprochenen Rüstungen für Othellos Truppen ausblieben, fertigte er diese kurzerhand aus alten Blechbüchsen an. Die Kameraleute George Fanto und G.R. Aldo mußten während der langen Produktionszeit unterschiedlich lichtempfindliches Material verwenden; entstanden ist ein Film voller reizvoller visueller Brüche und Uneinheitlichkeiten, die glücklicherweise auch die neuerliche Rekonstruktion nicht glättet. Schnitt und Tonmontage sind ähnlich sprunghaft, sie folgen einem traumähnlichen Rhythmus von Trägheit und Raserei.

Wie jeder große Welles-Film ist „Othello“ nicht zuletzt ein Hörvergnügen: eine unruhige Ton-Collage, die mit allen Regeln Hollywoodscher Aufnahmetechnik bricht, nonchalant nachsynchronisiert wurde (Welles spricht auch die Rolle Roderigos) und erfüllt ist von leidenschaftlicher Liebe für die Dialoge Shakespeares.

„Othello“, Marokko 1952 (Rekonstruktion: Großbritannien 1992). Regie und Hauptrolle: Orson Welles, Kamera: Brizzi/Aldo/Fanto. Mit: Suzanne Cloutier, Michaél Mac Liammóir, Robert Coote u.a., 91 Minuten