Am Ende der sozialen Welt

Wolfgang Sofskys eindringliche soziologische Studie über das Konzentrationslager  ■ Von Horst Meier

Die Lebenszeit der Augenzeugen, der Davongekommenen und der Täter verrinnt. Die Leidensberichte sind überliefert, die jämmerlichen Strafurteile abgefaßt; der Nationalsozialismus wird Geschichte. Wo indes die sogenannten Fakten weitgehend bekannt sind, wird die Frage nach dem Verstehen noch drängender, als sie schon bei Öffnung der Lagertore war. Es scheint, als könnten erst heute, da mit dem zeitlichen und mentalen Abstand von mehr als einer Generation der Schock abklingt, die kälteren, die rücksichtslosen Analysen entstehen.

Die Studie „Ordnung des Terrors“, die der Göttinger Soziologe Wolfgang Sofsky jetzt vorgelegt hat, gehört zur neuen, theoretisch ambitionierten Literatur über den Nationalsozialismus. Seiner Soziologie der deutschen Konzentrationslager ist es nicht um „historischen Sinn“, „philosophische Generaldeutungen“ oder die Frage zu tun, warum solche Stätten des enthemmten Terrors eingerichtet wurden. Ihr mikroskopischer Blick gilt vielmehr der sozialen Konfiguration einer Extremsituation, gilt dem Mikrokosmos einer Macht, welche die Welt des Lageralltags vollständig durchdrang.

Die Ausgangsthese lautet, in den Lagern sei etwas entstanden, das „sich wesentlich von den geläufigen Macht- und Herrschaftstypen unterscheidet“. Diese Macht sui generis bezeichnet Sofsky als „absolute Macht“. Das theoretisch grundlegende Eingangskapitel stellt zehn Thesen zum Verständnis dieser neuen Form der Macht vor.

„Absolute Macht“ ist organisierte Macht, die sich auf Terror und Organisation, nicht auf bürokratisch-formale Ordnung im herkömmlichen Sinne gründet. Sie ist absolute Etikettierungsmacht, welche die ihr Unterworfenen in ein System des gestaffelten Elends mit krassen Unterschieden preßte. Sie ist gestaffelte Macht, die ein differenziertes System der Kollaboration stabilisiert. „Absolute Macht“ ist nicht Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck, ist ungeachtet rassenideologisch motivierter Elemente ziellose, negative Praxis. Sie transformiert menschliche Arbeit in eine Ökonomie der Abnutzung und Tortur, nicht bloß der Zwangsarbeit, ja nicht einmal der Sklaverei: Ihre Opfer arbeiten, um zu sterben; ökonomische Rationalität bleibt daher eine Randerscheinung. Sie ist außerdem vollkommene Macht, die selbst Attentat, Martyrium und Freitod weitestgehend ausschloß.

Die direkteste Form „absoluter Macht“ ist die schiere Gewalt, deren überwältigende Kraft sich durch Terrorstrafe, Exzeß und Massaker beweist. Sie bewirkt absolute Ohnmacht, welche die meisten Häftlinge in ständiger Todesangst gefangenhält – als Teil einer seriellen Zwangsmasse, in der jeder einer zuviel ist. Sie tilgt die Demarkationslinie zwischen Leben und Tod, indem sie in der elenden Massengestalt „lebender Skelette“ den Menschen im Prozeß des Zerfalls anthropolitisch transformiert. Absolute Macht zielt schließlich auf die maßlose Steigerung ihrer selbst; sie erreicht ihren Kulminationspunkt, wo sie das Töten in Arbeit, in die betriebsförmige Vernichtung verwandelte.

Dieses Konzept der absoluten Macht wird zum Leitfaden einer soziologischen Interpretation, deren Quellen vor allem Häftlingsberichte sind.

So entfaltet Sofsky beklemmend, Schritt für Schritt, eine systematische Innenansicht der hermetisch abgeschlossenen Lagerwelt. Zu den überzeugenden Seiten des Buches zählen die Abschnitte, in denen der Autor darstellt, wie totale Herrschaft Raum und Zeit formiert und dabei Individualität und seelisch-körperliche Integrität der Häftlinge zerstört. In den Baracken der Blocks auf engstem Raum zusammengedrängt, führte die quälende Gleichzeitigkeit von Nähe und Fremdheit zur schleichenden Entpersonalisierung. Der alltägliche Vernichtungsdruck erzeugte einen erbarmungslosen Kampf aller gegen alle, der nur selten durch Solidarität gemildert werden konnte, etwa in den Subkulturen der politischen Häftlinge oder Bibelforscher.

Beeindruckend, geradezu unheimlich wirkt die Beschreibung des Schicksals der sogenannten Muselmänner, der Masse der Ausgemergelten, die am Rande der Lagergesellschaft dahindämmerten. Dieses „dritte Reich zwischen Leben und Tod“ wurde so eindringlich und prägnant noch nicht beschrieben.

Zu den weniger überzeugenden Kapiteln gehören jene zur Geschichte der Konzentrationslager, zur Klassifikation und Selbstverwaltung der Häftlinge, zu den Nutznießern der KZ-Arbeit sowie jene zu Selektion und Todesfabrik. Es ist kein Zufall, daß der Begriff der „absoluten Macht“ im letztgenannten Kapitel keine Rolle spielt: Er taugt nicht zur Erklärung des Übergangs vom Konzentrations- zum Vernichtungslager. Die Bedingungen, die hier für die „Funktionsweise der Todesfabriken“ aufgezählt werden – Organisation des Tötens und Spurenbeseitigung, systematische Täuschung der Opfer und Zwangsarbeit der jüdischen Sonderkommandos – sind allzu bekannt. Eine thematische Beschränkung wäre dem Anspruch einer Arbeit gerechter geworden, die ausdrücklich auf der Unterscheidung zwischen Konzentrations- und Vernichtungslager gründet und ersteres zum Gegenstand hat.

Im übrigen klappert hier und da der Soziologenjargon: „Autonome Assoziation war im Lager jedoch eine illegale Form der Vergesellschaftung.“ Zudem fehlen gelegentlich Anführungszeichen. Oder sollen wir Begriffe wie „liquidiert“, „abgeknallt“ oder „erledigen“ der Sprache des Autors zuschlagen?

„Die dichte Beschreibung gelingt in dem Maße, wie sie das Verständnis einer fremden Welt erweitert.“ Nehmen wir den Autor beim Wort. Aufs Ganze gesehen sind seine Studien oft tiefenscharf und zum Teil noch in der Aufbereitung von vermeintlich gut Bekanntem erhellend. Mit der systematischen Deutung der bisherigen KZ- Literatur wird eine neue Schicht des Verstehens aufgetragen. Die „Ordnung des Terrors“ ist zwar nicht jene „bahnbrechende Studie“, als die der Verlag sie preist, ungeachtet dessen aber ein wichtiger Beitrag zur KZ-Forschung.

Hannah Arendt sah in den Lagern die Signatur unseres Jahrhunderts. Von daher gewinnt die Analyse Wolfgang Sofskys ihre Aussagekraft; vom Mikrokosmos des KZ fällt Schatten aufs Ganze. Jene „Kolonie des Terrors am Ende der sozialen Welt“, die ganz und gar nicht mit der unseren verbunden zu sein scheint, diese alptraumhafte Gegenwelt entwuchs einer modernen gesellschaftlichen Lebensform, mit der wir Nachgeborene auf vielfältige Weise verwoben sind. Doch damit nicht genug: Die Sprache der absoluten Macht, erinnert Wolgang Sofsky in einer Randbemerkung, war Deutsch.

Wolfgang Sofsky: „Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager“. S. Fischer Verlag, 390 S., 49,80 DM