„Warum haben Sie sich nicht gewehrt?“

Bremer SchülerInnen im Gespräch mit einem Überlebenden des Lodzer Ghettos und des KZs Auschwitz / Ihre Hoffnung: Der Blick in die Vergangenheit muß doch für die Zukunft helfen  ■ Aus Bremen Susanne Paas

Sie kommen rein mit dem ganzen Schwung, den Siebzehn-, Achtzehnjährige mitbringen können, Kopfhörer um den Hals, klappernde Schlüssel am Gürtel, einen Yoghurt in der Hand. Der wird in der ersten Reihe noch cool gegessen, bevor es losgeht. Sie gucken zurückhaltend, aber aufmerksam: Ein alter Mann mit schwierigem Namen ist gekommen, um ihnen aus seinem Buch vorzulesen: Arnold Mostowicz aus Lodz, fast achtzigjährig, ein Überlebender des Ghettos, auch ein Überlebender von Auschwitz.

Diese siebzig GymnasialschülerInnen, an diesem Morgen vor einigen Wochen unvorbereitet und nicht etwa ausgesucht zusammengeholt aus 11. und 12. Jahrgängen der Bremer Schule an der Bördestraße, sie sind verblüffend. „Seien Sie nicht enttäuscht, wenn wenig Vorkenntnisse da sind ...“, hatte vorsichtig ein Lehrer den Gast gebeten, „die Weimarar Republik ist für die Schüler so weit weg wie für uns damals Bismarck!“ Von wegen: diese Jugendlichen hören geschlagene eineinhalb Stunden mucksmäuschenstill zu, sie fragen, widersprechen, reagieren aufeinander. Sie sind außerdem ziemlich höflich. Dabei ist Mostowicz manchmal nicht leicht zu verstehen, und sein Buch ist eine komplexe, literarische Bearbeitung des jüdischen Themas. „Das Buch ist erstens wahr und zweitens wichtig“, sagt Mostowicz gleich am Anfang, aber ohne Eitelkeit, „und ich möchte mich erst mal entschuldigen für meinen schrecklichen Akzent!“ Er will ran an diese jungen Leute, sie sollen begreifen, um was es geht. „Der junge Mann in diesem Buch bin ich!“ Dann greift er das Buch und liest, einige der Geschichten aus dem Ghetto und von Auschwitz. Eindringlich liest er, redet ohne Berührungsängste, erklärt das Schreckliche ganz einfach: „Selektion, verstehen Sie? Rechts zum Leben, links zum Gas.“ Nach dreißig, auch nach sechzig Minuten hören die SchülerInnen immer noch zu: da fachsimpelt der Lagerarzt mit einem neuangekommenen jüdischen Häftling, der auch Arzt ist, über Studienorte und Professoren. Und im Hintergrund, wie nebenbei, die Geräusche der Selekton, der Krach, die Rampe, schließlich die Wasserhähne der Gaskammer, „so falsch wie das Lächeln der Uniformierten.“

Nach kurzem Zögern kommen die ersten Fragen, sachlich, präzise: Wenn der Frontverlauf Hoffnungen weckte – woher konnten die Häftlinge überhaupt die Erfolge der Sowjets kennen!? Sofort ist die literarische dritte Person aus dem Buch vergessen. „Man hat uns doch immer weiter nach Westen deportiert!“ ruft Mostowicz. Wie er das findet mit den Anschlägen in Deutschland, und daß damals alle „nichts gewußt“ haben? „Das ist eine Lüge! Wir sind nach Hirschberg verlegt worden, die letzten Kilometer zu Fuß mitten durch den Ort – und die Menschen auf den Straßen haben uns nicht ins Gesicht gesehen. Aber sie mußten es alle wissen! Alle niederschlesische Orten waren voller Arbeitslager!“ In der ersten Geschichte gibt es keine Greuel, keine Leichenberge. Aber so Einzelheiten, nebensächliche, die genau zeigen, daß das auch Menschen sind, findet ein Schüler, daß man es sich gut vorstellen kann. Immer das Schlimmste vom Schlimmen, wie Somalia, das bringt es nicht. Der Schock, der kommt durch diese menschlichen Details. Mostowicz freut das. Judenräte im Ghetto haben die Transporte ins Gas mit vorbereitet, „sie haben gehofft, einige zu opfern, um jedenfalls andere damit zu retten, wenn man es schon mit Mördern zu tun hat“, versucht Mostowicz in das Problem einzuführen. Seine zweite Geschichte handelt davon: Der jüdische Lagerarzt kann Menschen vom Transport zurückstellen – aber dann muß ein anderer auf die deutsche Liste. Die Zahl muß stimmen.

Mostowicz war Arzt im Ghetto. Und erzählt, wie er vor wenigen Jahren in Jerusalem angesprochen wurde: „,Du hast mich gerettet! Du hast mich krankgeschrieben und im Ghetto gelassen!‘ – Ich aber dachte: Ein anderer war an deinem Platz. Und das habe ich auch gemacht.“

Welche Gewinne machte denn das Ghetto? Hatten Sie denn gar keine Waffen wie in Warschau? Versteh' ich nicht: Warum haben Sie denn keine Steine geschmissen oder Molotowcocktails, wenn Sie doch sterben mußten? Warum haben die Juden für die Wehrmacht noch die Schuhe hergestellt!! Immer wieder diese Frage: Und warum haben Sie sich nicht gewehrt? „Wer hungrig ist, macht keine Revolte“, ist Mostowicz' schlichte Antwort, „Menschen haben sich in langen Schlangen zur Deportation gemeldet, in der Hoffnung auf einen Teller Suppe mehr, auf versprochenes Brot.“ Und er erzählt von der irrsinnigen Hoffnung gegen alles Wissen, von der Aussichtslosigkeit gegen Panzer und MPs, von verzweifelten Versuchen, durch Arbeit für die Deutschen tauglich zu sein, durchzukommen.

Als der Gong geht, springt niemand auf. Einige wollen noch weiterreden, wollen hören, ob der Gast etwa die Siedlungspolitik Israels gutheiße? Eine ausländische Schülerin will in fließendem Bremisch leise noch etwas loswerden: Der Blick in die Vergangenheit muß doch da sein für die Gegenwart und die Zukunft: Das in Bosnien erinnert mich so daran! Vorhin, als es um das jüdische Thema ging, hatte sie das aber nicht sagen wollen: „Ich fand das unpassend.“

Arnold Mostowicz: Der blinde Maks oder Passierschein durch den Styx, Transit, 34 DM