Solinger leben im Ausnahmezustand

Seit Tagen werden die Nachbarn des gefaßten und inzwischen geständigen Täters von Solingen von Reportern belagert. Die Anwohner, Nachbarn auch der Opfer, fürchten sich vor Racheakten.

Über die Gencs weiß man in der Unteren Werner Straße Bescheid, wie man in Nachbarschaften eben Bescheid weiß. Beliebt war die Großfamilie und vollkommen integriert. „Das hat man schon daran gesehen, daß sie jeden Samstagmorgen ihre Autos gewaschen haben“, sagt Herr B., Firmenbesitzer und seit 13 Jahren Nachbar der Türken. Nach einem jugendlichen Rechtsradikalen aber fragt man ihn vergeblich: „Nie gesehen. Ein Christian? Keine Ahnung.“ Fällt der Name Christian R., weiß überhaupt keiner mehr irgend etwas in der Unteren Werner Straße.

Und doch sind die Nachbarn der Gencs auch die Nachbarn des Mordbrenners. Wenn die Türken aus den vorderen Fenstern ihres Hauses blickten, konnten sie ihren Mörder sehen, nicht mehr als 50 Meter entfernt, im Haus schräg gegenüber. Dort, in dem netten, unauffälligen Mehrfamilienhaus, hat er den Anschlag ausgeheckt. Vielleicht kannten sich Opfer und Täter sogar. Christian R. gilt nach Informationen aus Bonner „Sicherheitskreisen“ als „aggressiver Typ“, der schon oft in heftige Schlägereien mit Ausländern verwickelt war. Ein Mensch also, der unangenehm auffallen müßte in der schmucken, ruhigen Straße mit den vielen hübschen Häuschen. Doch Christian R. ist weder ein Skinhead, noch gehörte er einer rechtsgerichteten Organisation an. Für Außenstehende ist er ein ganz normaler junger Mann, stämmig, mit ordentlichem Kurzhaarschnitt.

Seine Vita ist weniger glattgescheitelt. Weil er so ein schwieriges Kind war und ständig seine Spielkameraden verprügelte, steckten ihn seine Eltern in ein Erziehungsheim. Diagnose: Integrationsschwierigkeiten bei der Eingliederung in die Gesellschaft. Probleme, mit denen auch der Rest der Familie zu kämpfen hat, wie ein Mitbewohner berichtet. Er kam gerade vom Einkaufen und ahnte noch nicht, daß die Adresse des Attentäters – seine Adresse – den Medien bekannt ist. Kaum wollte er seine Haustür offnen, war er von Kameras umringt. Fassungslos stellte er seine Kiste ab, und begann zu weinen. „Es tut mir so furchtbar leid, wir konnten das nicht ahnen...“ In Tränen aufgelöst entschuldigt sich der Mann immer wieder bei den anwesenden Türken, erzählt, daß die Mieter diese Familie schon längst aus dem Hause haben wollten. Zerrüttet, nennt er deren Verhältnisse. „Die Eltern, die streiten immer. Heftig.“ Von dem Jungen weiß er wenig, nur, daß er in die Hauptschule Central geht. Als der Mann ins Haus geht, ist er fix und fertig. „Sehen Sie, deshalb wollten wir nicht zugeben, daß wir den Jungen kennen“, sagen jetzt die Nachbarn. „Dies hier ist anders wie in Mölln. Wir haben Angst vor den Racheakten, wir müssen uns schützen. Am schlimmsten aber ist die Gier der Medien.“

Seit Tagen werden die Anwohner von Reportern ausgefragt. „Die klingeln an der Haustür und bieten 50 Mark, um vom Balkon aus zu Filmen. Einer von dem Privatsender fragte nach einem Videofilm von der Brandnacht. 25.000 Mark wollte der zahlen und konnte gar nicht verstehen, daß ich dort war, ohne zu filmen.“

„Auf mein Grundstück“, berichtet ein anderer, „kommt kein Reporter mehr. Das sind gefühllose Geier.“ Die Anwohner sind verärgert, daß die Adresse preisgegeben wurde, als am Mittwoch mittag der Feuerwehrwagen kam. Die Leiter wurde ausgefahren, und schon legte RTL los: „Wahrscheinlich, so mutmaßte der Reporter mit gespielter Besorgnis in die Kamera, hat die Mutter des Mörders gerade einen Selbstmordversuch unternommen.“ Tatsächlich ist die Familie des mutmaßlichen Mörders längst geflüchtet, und die mutmaßlichen Retter entpuppten sich als Sonderermittler der Bundesanwaltschaft auf Spurensuche. Die Anwohner sind angewidert. „Sehen Sie, hier wird gelogen, nur der Story zuliebe. Einmal wurde gar behauptet, daß wir eine Unterschriftenliste gegen die Türken gemacht hätten. Das ist nicht wahr.“

„Ich glaube, die hoffen richtig, daß die Demonstranten uns auch ausräuchern, dann haben sie was zum Filmen.“ Viele Anwohner sind bereits zu Freunden geflüchtet, und der ein oder andere nimmt sein Namensschild von der Tür, um seinen Namen nicht tags drauf in der Zeitung zu lesen. Kaum einer geht mehr vor die Tür, selbst Rasen mähen fällt aus. „Bei uns hat die Polizei alle Gartengeräte weggesperrt, damit sie nicht als Waffen benutzt werden“, sagt eine Frau. „Wissen Sie, ich habe wirklich Angst. Denn hier herrscht Ausnahmezustand.“ Michaela Schießl, Solingen