Trauern aus Angst um die gemeinsame Zukunft

■ Berliner gedachten der Mordopfer von Solingen / Trauerfeier in Kreuzberg / Arbeitspausen und Blockaden

Weil der Senat von Berlin es nicht zuwege brachte, zeitgleich mit dem Staatsakt in Köln eine zentrale Trauerfeier für die Mordopfer von Solingen zu organisieren, fand gestern die einzige öffentliche Trauerveranstaltung vor dem Rathaus in Kreuzberg statt.

Etwa 2.000 Menschen fanden sich dort ein, um gemeinsam gegen den Haß zu demonstrieren und für ein Miteinander einzustehen. Vor allem Schüler und Schülerinnen von Kreuzberger Grund- und Gesamtschulen zeigten sich auf die Veranstaltung vorbereitet. So trugen die Kinder der Klasse 4 d von der Otto-Wels-Grundschule selbstgemalte Bilder, mit der sie ihre Teilnahme begründeten. „Ich habe eine schwarze Freundin“, stand auf einem Bild zu lesen, auf einem anderen: „Ich will keine Angst haben.“ Mehr nach LehrerInneninitiative sah die Aktion der Charlotte-Salomon-Grundschule aus. Die Schüler verteilten selbstunterschriebene Zettel mit dem getippten und einheitlichen Text: „Wir verstehen nicht, wie man ein Attentat verüben kann, wo Menschen ums Leben kommen.“ Die Reinhardswald-Schule erschien mit einem großen Transparent gegen Ausländerhaß, und die Hector-Peterson-Gesamtschule, ebenfalls in Kreuzberg gelegen, entfaltete ein buntes Patchwork, zusammengestückelt aus etwa dreißig verschiedenen Nationalflaggen. Demgegenüber wirkten die von jungen Türken geschwenkten Fahnen mit dem Halbmond und die Rufe „Türkei, Türkei“ wenig multikulturell.

Multikulturelles Zusammenleben bedeute nicht „Harmonie“, sondern „gegenseitige Akzeptanz“, betonte der Kreuzberger Bürgermeister Peter Strieder (SPD) in seiner immer wieder von Beifall unterbrochenen Trauerrede. Die Morde von Solingen seien daher ein Angriff auf das multikulturelle Leben in Kreuzberg. „Wir trauern auch aus Angst um diese gemeinsame Zukunft“, sagte er. Ein Drittel der in Kreuzberg lebenden Bevölkerung besitze nicht die deutsche Staatsangehörigkeit. In seiner Rede forderte er die Bundesregierung auf, die doppelte Staatsbürgerschaft für Ausländer einzuführen. Außerdem sei den rechtsextremen Gruppierungen „mit dem gleichen Nachdruck entgegenzutreten wie früher den Bombenlegern von der RAF“. Vom Berliner Senat erwarte er eine Verfassungsinitiative mit dem Ziel des kommunalen Wahlrechts für Ausländer.

Der türkische Vizegeneralkonsul in Berlin, Mehmet Cinar, forderte von der Regierung einen besseren Schutz vor rechter Gewalt. Die Trauerfeier endete mit Gebeten eines katholischen und eines evangelischen Pfarrers sowie eines Imams.

Flaggen auf Halbmast

Auch in anderen Stadtteilen fanden gestern unüberschaubar viele Gedenk- und Mahnaktionen statt. Die Flaggen vor sämtlichen öffentlichen Gebäuden waren auf Halbmast gesetzt. Im Schöneberger Rathaus wurde die Kölner Trauerfeier übertragen, zuvor hatten sich Verwaltungsmitarbeiter nach einem Aufruf der Gewerkschaft ÖTV zu einer Mahnviertelstunde vor dem Haus versammelt. Am Fehrbelliner Platz traten um 12 Uhr ebenfalls mehr als 800 Mitarbeiter von verschiedenen Senatsverwaltungen für 15 Minuten vor die Tür. Auch im Roten Rathaus legten fast alle Mitarbeiter ihre Arbeit nieder, die Trauerrede hielt die Bürgermeisterin Christine Bergmann (SPD). Ins Kondolenzbuch im Charlottenburger Rathaus trugen sich am Vormittag Hunderte von BürgerInnen ein. Von 12.59 bis 13 Uhr schwiegen die privaten Rundfunkanstalten Radio-Energy, 100,6 und RS 2. In der Kochstraße gingen die MitarbeiterInnen der taz für eine Viertelstunde auf die Straße. Im Kaufhaus KaDeWe wurde der Verkauf für einige Minuten eingestellt. Sämtliche Geschäfte und Initiativen in der Kreuzberger Wrangelstraße waren ab dem späten Vormittag geschlossen. Nach einer spontanen Straßenblockade zogen viele Ladeninhaber zum Kreuzberger Rathaus. Zahlreiche Postämter machten dicht. Die Filiale der Sparkassen am Kottbusser Tor sowie zwei Filialen der Commerzbank in Kreuzberg und Wedding schlossen ebenfalls für eine Viertelstunde.

Zudem fanden in vielen Berliner Schulen, so in der Heinrich- Böll-Gesamtschule in Spandau, in Charlottenburg und in Tempelhof, spontane Trauerfeierlichkeiten statt. In fast allen Stadtteilen blockierten Jugendliche für wenige Minuten Straßen, die Kreuzung Prinzenallee/Osloer Straße war eine Dreiviertelstunde blockiert. Zu Zwischenfällen kam es tagsüber nirgends, vielmehr lag ein Hauch von Generalstreik über der Stadt. Anita Kugler