Erst die Wahl, dann das Programm

Spaniens Wahlkämpfer zeichnen sich durch große Offenheit aus: Sie versprechen ihren Wählern nichts zur Lösung der Wirtschaftsprobleme  ■ Von Donata Riedel

Berlin (taz) – Das Kreuz auf dem Stimmzettel gleicht der Unterschrift auf einem Blankoscheck – egal, ob die SpanierInnen am Sonntag die Sozialisten oder die Konservativen der „Partido Popular“ wählen: Das Wirtschaftsprogramm der Spitzenkandidaten Felipe Gonzales und José Maria Aznar erschöpft sich im „Wählt mich, dann besprechen wir alles“, lästerte kürzlich El Pais.

Die programmatische Zurückhaltung wird sich nach Meinung des El Pais-Kommentators nach der Wahl rächen. Der künftige Präsident könne sich dann nämlich nicht auf ein Mandat der WählerInnen zu harten Sanierungsmaßnahmen berufen, sondern müsse ein Wirtschaftsprogramm zunächst mit den potentiellen Koalitionspartnern auskungeln – und das werden ausgerechnet jene Regionalparteien sein, die zusammen mit der Madrider Zentralverwaltung für einen Großteil des Haushaltsdefizits verantwortlich sind. In den Jahren, als die Verwaltung demokratisiert und dezentraliert wurde, haben die Beamten-Lobbies durchgesetzt, daß so gut wie nirgends mit den Aufgaben auch die dazugehörigen Stellen in die Provinz verlagert wurden. Überall im Lande enstanden neue Bürokratien und vergrößerten das Loch in der Staatskasse, wie die OECD in ihrem diesjährigen Länderbericht kritisiert.

Die gesamte Staatsverschuldung wird nach OECD-Schätzung in diesem Jahr von 48,4 auf 50,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (der Wert aller im Lande produzierten Waren und Dienstleistungen) ansteigen, die Netto- Neuverschuldung lag im vergangenen Jahr bei 4,5 Prozent.

Das Haushaltsdefizit übt, bemängeln die OECD-Volkswirte, inflationären Druck auf die Peseta aus. So teilt in EG und OECD auch niemand den Optimismus von Wirtschaftsminister Carlos Solchaga, daß die Inflation (1992: 5,4 Prozent) in diesem Jahr deutlich sinken wird.

Gleichzeitig erfaßte Anfang des Jahres die westeuropäische Rezession auch Spanien, das nach dem EG-Beitritt 1986 einen kräftigen Aufschwung schaffte und deshalb über Jahre als das „Kalifornien Europas“ galt. Damals lag Spanien, gemessen am Zuwachs des Pro- Kopf-Einkommens und der Schaffung neuer Arbeitsplätze, an der Spitze der 24 OECD-Länder. Heute liegt der EG-Rekord Spaniens bei der Arbeitslosenquote: Fast 22 Prozent der Erwerbsfähigen, drei Millionen Männer und Frauen, sind offiziell als arbeitslos registriert – Tendenz weiter steigend. Die Veröffentlichung dieser Zahlen war es, die Gonzales letztlich zu den vorgezogenen Wahlen nötigte.

Das Haushaltsdefizit, eine schrumpfende Wirtschaft, die steigende Arbeitslosigkeit und zudem eine negative Leistungsbilanz (Spanien führt weitaus mehr Waren ein, als es exportiert) spülten schließlich die Pesata weich. Trotz hoher Leitzinsen und des Verpulverns fast der gesamten Devisenreserven konnte die Notenbank die spanische Währung nicht vor ihrer dritten Abwertung am 13. Mai bewahren. Das Vertrauen in Währung und Wirtschaft des Landes sank auch deshalb so kräftig, weil die Pläne der Regierung immer weniger mit der sich verschlechternden Realität übereinstimmten. So hatten Gonzales und Solchaga aller Welt einen Konvergenzplan verkündet, der bis spätestens 1999 die strengen Anforderungen der Maastrichter Verträge zur Europäischen Währungsunion übererfüllen sollte.

Die Kernpunkte des Plans: 1994 soll die Peseta in das engere Band des Europäischen Währungssystems übergehen, das nur noch Wechselkurs-Schwankungen von 2,5 Prozent (statt derzeit sechs Prozent) erlaubt. Bis 1996 soll das reale Bruttoinlandsprodukt um 3,6 Prozent jährlich wachsen, das Finanzierungsdefizit der Öffentlichen Haushalte auf ein Prozent gedrückt werden. Die Produktivität soll schneller wachsen, als die Löhne steigen.

Das Haushaltsdefizit wollten die Sozialisten nach dem Konvergenzplan ohne Steuererhöhungen, nur über Einsparungen abbauen. Deshalb verfügte die Regierung bereits drastische Kürzungen bei der Arbeitsmarktbehörde „Inem“ und der Krankenversicherung „Insalud“ – zu Lasten von Arbeitslosen und Kranken.

Auch das alte Arbeitsmarktgesetz wollte Gonzales, gegen den heftigen Widerstand der Gewerkschaften, abschaffen. Heute noch gilt jede Person, die einen Monat irgendwo gearbeitet hat, als festangestellt und damit unkündbar – es sei denn, sie erhielte einen befristeten Arbeitsvertrag. Das als Schutzrecht gedachte Gesetz verkehrt sich jedoch immer mehr in sein Gegenteil: Seit Jahren werden fast überall nur befristete Arbeitsverträge abgeschlossen, so daß heute ein Drittel der ArbeitnehmerInnen nicht festangestellt ist.

Zusammengestrichen werden sollen außerdem Subventionen für staatliche Unternehmen. Die Industrieholding des spanischen Staates, „Ini“, wurde im vergangenen Jahr mit 110 Milliarden Peseten (knapp 1,5 Mrd. DM) subventioniert – und schrieb dennoch einen Verlust von 79 Milliarden Peseten, von denen allein 50 Milliarden im Stahlsektor verwirtschaftet wurden. Bei Spaniens größter Industrie-Gruppe (Stahl, Rüstung, Autos, Elektro, 140.000 Beschäftigte) schrieb nur der Elektro-Sektor schwarze Zahlen.

Trotz der akuten Wirtschaftskrise warnt allerdings das Münchner Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung davor, die Lage Spaniens einheitlich schwarzzumalen. Ein Teil der Probleme sei durchaus normal für ein Land, das gerade erst zum Industrieland aufgestiegen sei. Schließlich sei nicht zu erwarten gewesen, daß die Mehrheit der Klein- und Mittelbetriebe schnell europareif würde.

Beim nächsten Aufschwung in Europa, meinen die Forscher, sei Spanien auf jeden Fall dabei – nicht zuletzt wegen der verbesserten Exportchancen durch die abgewertete Peseta. Ihren Optimismus begründen sie ansonsten recht schlicht: „Zu diesem Urteil berechtigen die erstaunlichen Erfolge auf wirtschaftlichem, politischem und sozialem Gebiet“ seit der Franco- Zeit.