: „Dieser Platz gehört heute uns“
■ Repräsentanten des deutschen Staates waren bei den Trauerfeiern in Solingen und Köln nur geduldet
Sie stehen zu Füßen des türkischen Iman wie bestellt und nicht abgeholt. Keiner der umstehenden Türken übersetzt Landesvater Johannes Rau und Ex-Bundespräsidenten Walter Scheel die emotionsgeladene Trauerrede des Geistlichen, niemand hofiert sie, keiner kümmert sich übermäßig um die Polit- Prominenz. „Warum sollten wir? Wir haben sie nicht eingeladen, sie sind spontan gekommen“, sagte ein Organisator der offiziellen Trauerfeier, die die Stadt Solingen gestern um elf Uhr für die fünf Mordopfer des Brandanschlages abhielt.
Immerhin läßt man sie aus Sicherheitsgründen in den inneren Bereich hinter die Polizeikette. Aber dort wird ihnen unmißverständlich signalisiert: Ihr dürft hier bleiben, aber haltet euch still. Die Verantwortung der Politik für die Mordanschläge der Rechtsradikalen läßt sich in Solingen nicht länger leugnen. Unübersehbar schimmert sie durch in allen Reden, zwischen allen Beteuerungen des Beileids, der Bestürzung, der Empörung lugt sie bitter hervor.
Als irgend jemand Johannes Rau dann doch auf das Podium bittet, geht die Diskussion los. Minutenlang wird der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen auf der Bühne ausgestellt. Solingens Oberbürgermeister Gerd Kaimer reagiert unwirsch. Rüde schubst er den prominenten Sozialdemokraten zur Seite und stellt sich davor. Der Respekt vor großen Namen, die Hochachtung vor deren Verantwortung ist in Solingen dahin. Schließlich kommt ein türkischer Organisator zu Rau. Freundlich ist er, von ausgesuchter Höflichkeit, als er ihm sagt: „Herr Rau, bitte verstehen Sie: Dieser Platz gehört heute uns.“
Rau läuft rot an. Schnurstracks klettert er auf der Rückseite der Bühne herunter und hetzt in seinen Wagen. Neue Chance, neues Glück, auf zur offiziellen Trauerfeier nach Köln. Dort, das weiß er, darf er sich auslassen.
Die Bühne in Solingen gehört den Solingern. Mehrere tausend hatten sich vor dem Rathaus versammelt, um ihre Trauer kundzutun. Alles war bestens organisiert. Alles, außer die Emotionen. Der Iman der Moschee, in der die Familie Genc zum Beten kommt, beginnt bedächtig, mit einer Nachricht der Mutter der fünf toten Türkinnen: „Sie bittet euch, ruhig zu bleiben. Sie möchte, daß der Terror in der Stadt aufhört.“ Die Türken auf dem Rathausplatz applaudieren, andere Nationen sind verunsichert: Keiner übersetzt die Ansprache des Iman.
So registrieren die Sprachunkundigen nur die plötzliche Hektik. Zwischenrufe unterbrechen den Iman, der sich sichtlich hineinsteigert. Aus dem anfänglichen „Freunde wollen wir sein, in Frieden in Deutschland leben, den Kräften nicht unterliegen, die die deutsch-türkische Freundschaft gefährden“ wird bald ein „Hoch lebe die Türkei“. Der türkische Organisationschef schlägt die Hände über dem Kopf zusammen: „Wir müssen den Iman stoppen, wir wollen gemeinsam trauern. Unser Problem ist kein nationalistisches.“
Als der Iman die Gläubigen spontan zum Gebet aufruft, ist das Protokoll endgültig gesprengt. Die Moslems sind aufgeregt: „Hier können wir nicht beten, wir sind nicht vorschriftsmäßig gereinigt“, ruft ein Türke in Richtung Bühne. „Dann nehmt eben Sand“, wettert der Iman. „Aber die Frauen: Sie tragen kein Kopftuch! Wir müßten Männer und Frauen trennen!“ Hin und her wird geschrien, längst verstehen die nichttürkischen Solinger die Welt nicht mehr. Beunruhigt versuchen sie, ihren neuen Freunden und Mitbürgern die Sachlage aus dem Gesicht abzulesen. Erst als der Iman zu singen beginnt, löst sich die Spannung. Die Trauerfeier nimmt ihren wohlgeordneten Gang. Bürgermeister Gerd Kaimer hält eine eindringliche Rede. Von Trauer und Scham spricht er, von seiner Erschütterung über den unerträglichen Fremdenhaß, aber auch von den verschiedenen deutsch-türkischen Gemeinschafts-Unternehmungen. „Dies ist heute nicht medienwirksam, aber vergessen Sie nicht: Es gibt auch andere Entwicklungen. Bitte nehmen Sie mir das ab. Wir bitten um Verzeihung. Und schließen uns den Worten der Mutter Genc an: ,Der Tod meiner Kinder soll uns alle öffnen, Freunde zu sein.‘“
Still stehen die Solinger vor dem Rathaus, aufmerksam und voller Trauer hören sie den Rednern zu. Ganz anders als eine Stunde später in Köln. Dort gerät die offizielle Trauerfeier zu einer politischen Demonstration. Nur geladene Gäste dürfen in die Kölner Moschee, der Großteil der Trauergäste muß leider draußen bleiben. Die Polizei hat das Gelände der Moschee weiträumig abgesperrt, patrouilliert auch auf den Dächern der Moschee. Per Videowand werden die Ansprachen auf den völlig überfüllten benachbarten Sportplatz übertragen.
Niemand scheint empört, daß Bundeskanzler Kohl nicht da ist. Er ist schlicht kein Thema. Selbst als Bundespräsident Richard von Weizsäcker spricht, hört kaum jemand hin. Sicher, seine Bestürzung ist rhetorisch geschliffener als die der meisten seiner Politikerkollegen. Und doch scheinen die Trauernden nicht berührt von den Worten ihres Gastgebers. „Wir Deutschen haben die Türken eingeladen zu kommen“, sagt er. Und daß Gastfreundschaft ein Zeichen der Zivilisation sei. Die Anerkennung der Türken als Mitbürger müsse mehr am Leben orientiert sein als am deutschen Paß. „Sie, die aus ihrer Heimat zu uns gekommen sind, sollen sich bei uns zu Hause fühlen“, sagt Weizsäcker.
„Trauer, Scham und Entsetzen“ sowie Anteilnahme für das türkische Volk äußert Bundesaußenminister Klaus Kinkel. Die tiefe traditionelle Freundschaft zwischen Deutschland und der Türkei, die „für uns sehr, sehr wichtig ist“, dürfe nicht durch irregeleitete Täter gefährdet werden, betont Kinkel. Die türkischen Mitbürger bittet er um Vertrauen. Er sichert ihnen seitens der Bundesregierung zu, alles zu tun, damit sie wieder ohne Angst in Deutschland leben können.
Aber auf dem Sportplatz und rund um die Moschee hört längst keiner mehr hin. Tausende von Menschen, die meisten davon Türken, trauern weiniger gebildet als der Präsident und der Bundesaußenminister; sie trauern wütend. Überall werden rote Fahnen geschwenkt, an jeder Ecke fordern Sprechchöre „Nazis raus“ und „Hoch lebe die Türkei“. Ein Grieche, der schon in Solingen zur Gewalt aufgerufen hatte, wiegelt eine kleine Gruppe Leute auf: „In den Polizeipräsidien sitzen Nazis“, schreit er, „Tod allen Nazis.“ Keiner will wissen, wer er ist, er selbst nennt sich am liebsten „einen Ausländer“.
Doch zu mehr als ein paar Rangeleien kommt es vor der Moschee schließlich nicht. „Bei den meisten von uns geht es nicht um Haß“, sagt ein fahnenschwingender Türke. „Es geht uns mehr um eine Warnung: Ab jetzt werden wir uns wehren. Denn Politiker zählen nicht mehr.“ Michaela Schießl, Solingen/Köln
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