Nur ein Nährboden läßt Mordideen entstehen

■ Der PDS-Politiker Gregor Gysi sprach in einem Solinger Stadtteil mit Jugendlichen über die Ursachen rechten Terrors und über die Rolle, die die deutsche Einheit dabei spielt

Als Gregor Gysi das Podium betritt, regt sich keine Hand im „Getaway“. Etwa dreihundert Jugendliche aus der links-alternativen Szene sitzen am Mittwoch abend auf der Tanzfläche der Diskothek im abgelegenen Solinger Stadtteil Ohligs und starren mißtrauisch auf den Mann in Schlips und Kragen — schließlich gehört der zu der Riege, die man derzeit am meisten verabscheut: Politiker.

Gysi scheut sich nicht. Während die Bonner Politiker sich ob des fünffachen Mordes von Solingen in immer peinlichere Bestürzungsfloskeln flüchten, ist der PDS- Mann angereist, um über die Ursachen des rechten Terrors in Deutschland zu sprechen. Und über die drängende Frage, welche Rolle die Deutsche Einheit dabei spielt.

„Die Deutsche Einheit hat aus zwei verfeindeten deutschen Staaten, die anderen Völkern freundlicher gesonnen waren als dem anderen Deutschen, eine gemeinsame Nation gemacht“, sagt Gysi. „Von einem Tag auf den anderen wurde der Nationalismus in Ost und West wieder salonfähig. Und keiner hat sich dem entgegengestellt.“ Statt dessen sei billigend in Kauf genommen worden, daß sich Neonazis der freischwebenden DDR-Jugend bemächtigten — einer Jugend, die aufgewachsen sei in fatal ähnlich autoritären Strukturen, wie sie rechtsradikale Organisationen anbieten. Einer Jugend, die seit der Einheit sozial ausgegrenzt werde, sich zweitklassig vorkomme. „Die Rechten bieten Selbstbewußtsein zum Nulltarif. Bei denen muß man sich nichts erarbeiten, nicht nach Antworten suchen. Es genügt, Deutscher zu sein, um sich über andere zu erheben. Um nach unten treten zu können. Zudem sind ihre simplen Antworten für alle begreifbar.“

Die Politiker, so klagt Gysi an, benützten diese selbstgemachte Struktur, um gezielt Ängste zu schüren und anschließend Gesetze wie etwa den „Asylkompromiß“ durchzupauken. Ein Indiz für diese Instrumentalisierung: Statt Rechtsradikale entschieden zu ächten, werden sie in Schutz genommen, selbst von Leuten wie dem stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Thierse. „Die müssen erst lernen, mit Ausländern umzugehen“, hatte dieser die Brandstifter von Rostock entschuldigt. „Eine Ungeheuerlchkeit“, findet Gysi. „Was muß ich erst lernen, um zu wissen, daß man Mitmenschen nicht anzündet?“

Gleichsam verlogen ist Gysi zufolge die Mär vom Einzeltäter, die auch in Solingen wieder strapaziert wird. „Es gibt keine Einzeltäter“, sagt Gysi. „Nur wo ein Nährboden geschaffen wird, entstehen solche Mordideen.“ Tatsächlich wird auch im Fall des Solinger Verdächtigen Christian R. heftig an der Einzeltätertheorie gesponnen. Zerrüttete Familienverhältnisse müssen herhalten, die allgemeine Verrohung der Jugend durch Gewaltvideos und Computerspiele, am besten noch Geisteskrankheiten, um sich in Unschuld zu wiegen. Der ausländerfeindliche Anschlag als Amoklauf eines einzelnen verrückten Jugendlichen, als ein Fall höherer Gewalt. Schaut nur her, er gehört ja noch nicht einmal einer rechtsextremen Organisation an!

„Das“, sagt Gysi, „macht mir noch viel mehr Angst. Wie ist die Verfaßtheit einer Republik, in der sich 13-, 16-, 20jährige ganz alleine zum Morden entschließen. Noch nicht einmal jemanden brauchen, der sie dorthin drängt?“ Da reiche keine Bestürzung, keine Trauer. Es sei die Verfaßtheit dieser Republik, die solche Mordbrenner hervorbringt. „Die Verfaßtheit, die Einbürgerungen verweigert und doppelte Staatsbürgerschaften ablehnt, um chancenreicher zu sein im wirtschaftlichen Verteilungskampf“, sagt Gysi. Er sieht nur eine Möglichkeit, ein Zeichen zu setzen: „Ich appelliere an den Mann, der immer so deutlich sein humanistisches Bewußtsein formuliert“, und mahne, „das Gesetz zur Asylrechtsänderung nicht zu unterschreiben“: Richard von Weizsäcker, der Menschenfreund, solle Farbe bekennen.

Einen Moment lang herrscht Stille, als Gregor Gysi die Bühne verläßt. Dann bricht der Applaus los, minutenlang. Michaela Schießl, Solingen