Keimfrei wie Domestos

Das Zeichentrickfilmfestival: Mit einer umfassenden Retrospektive verabschiedet sich das Filmkunst66  ■ Von Gerd Hartmann

Mit einem Pierrot ging es los. Doch nicht der altbekannte Spaßmacher war die Sensation, sondern die Tatsache, daß sich die gezeichnete Figur bewegte. Mittels seines selbsterfundenen „Praxinoscope“ warf Emile Reynaud 1892 erstmals einen Zeichentrickfilm auf die Leinwand. Ein konstituierendes Element der Kinematographie fehlte dem Pionier allerdings noch – die Kamera. Er malte seine Mini- Geschichten direkt aufs beschichtete Zelluloid. Mit einigen Monaten Verspätung feiert Franz Stadler den 100jährigen Geburtstag der Strichmännchen und -mädchen. 400 trickambitionierte Filme, quer durch die Epochen des Genres, stellte er zu einer umfassenden Retrospektive im Filmkunst66 zusammen. Das Festival der lustigen Gestalten hat allerdings einen traurigen Anlaß. Nach 22jährigem Bestehen gehen in der Bleibtreustraße Ende Juni die Lichter aus. Das renommierte Kino muß einem Geschäftshaus Platz machen. Dort soll zwar ein neues Lichtspielhaus mit eingebaut werden, die Miete wird allerdings so horrend, daß sie für das Filmkunst 66 nicht mehr zu bezahlen ist. Doch vor dem großen Abschiedsfest am 26. Juni darf erst noch kräftig gelacht werden.

Dafür eignen sich die Maus Mortimer und seine Kumpanen bestens. So hieß Mickey Mouse, bevor er mit „Steamboat Willie“ (1928) zum Star wurde. Anfangs hatte er noch streichholzdürre Beine, eine lange Knopfnase und wesentlich schlechtere Manieren als später. Trotzdem hatte Walt Disney ihn schon in seiner neuentwickelten O-Form gezeichnet, einer Technik, die Figuren aus Elipsen und Kreisen entwickelt. Die Bewegungen wurden dadurch geschmeidiger und wirklichkeitsnäher. Der Realismus im Zeichentrick war durch den Erfolg für Jahrzehnte zementiert.

Pfiffig, optimistisch und jeder Situation gewachsen. Mickey war die ideale Figur für die Zeiten der Wirtschaftskrise. Auch die anderen Disney-Geschöpfe haben einen klar umrissenen Charakter. Der quäkende Kleinbürger Donald, mit dem ständigen Drang nach Höherem und seine altklugen Neffen – Tiere wie Nachbarn von überm Flur. Die Werte der moral majority in Gouache-Farben und mit penibel ausgemalten Hintergründen. Erotik hatte da keinen Platz. Mickeys Beziehung zur Ehemaus Minnie ist keimfrei wie Domestos, und wenn Daisy sich in Positur stellt, gibt sie eine würdige Vorgängerin von Doris Day ab. Beim Kampf um all-american decency stand Disney immer in vorderster Front.

Da ist Betty Boop schon mit anderem Strich gezeichnet. Ein brillantenbesetztes Strumpfband – das gelegentlich herunterrutscht, großzügiger Ausschnitt und Herzmund sind die Markenzeichen des ersten animierten Vamps. Zehn Jahre lang, von 1925 bis 1935, verlor sie kokett Strumpfband und Herz, dann traf sie der Bannstrahl der mächtigen Frauenverbände. Zwar versuchten die Gebrüder Fleischer ihre Figur mit knöchellangen Hosen vor dem Ableben zu bewahren, doch das mochte das Publikum nicht sehen.

Erst in den Vierzigern mutete Tex Avery dem hygienischen Genre wieder einen kräftigen Schuß Triebleben zu – und auch sonst noch so einiges. Seine Gags überschlagen sich im Tempo, ganze Szenen handelt er in weniger als einer Sekunde ab. Mit bitterbösem Humor jagt er seine Figuren von einer surrealen Situation in die nächste, zusammengehalten durch einen Off-Kommentar. Rotkäppchen („Little rural riding hood“, 1943) trieb er gnadenlos jeden Märchenkitsch aus. Dem Genie des US-Zeichenstifts widmet das Festival ein eigenes Programm. Der verrückte Hasendandy Bugs Bunny, der Sado-Specht Woody Woodpecker und die schwarze Anarcho-Ente Duffy Duck waren die Antwort der anderen Studios auf Disneys Marsh-mellow-Vorherrschaft. Auch in Sachen Brutalität legten die bewegten Cartoons zu. Den Höhepunkt der auf die Tempospitze getriebenen Verfolgungsjagden erreichten wohl Roadrunner und Coyote Ende der Fünfziger. Damit war dann auch die letzte Runde eingeläutet, sowohl für die Trickabteilungen der Major Studios als auch für den klassischen Comic-Kurzfilm.

In Deutschland passierte schon seit Lotte Reinigers Scherenschnittmärchen („Die Abenteuer des Prinzen Achmed“, 1926) und Otto Fischingers geometrisch verzeichneter Musik („Studie Nr.6“, 1929) recht wenig. Die neuesten Produkte heimischen Humors, wie der beinlahme Werner, fehlen Gott sei Dank beim Festival. Dafür sitzt Loriots allseits geschätzter Herr Müller-Lüdenscheid in der deutschen Programmschiene in der Badewanne.

Bei den Langfilmen gibt es neben amerikanischen Alt- und Neuklassikern, von Richard Fleischers „Gullivers Reisen“ (1939) bis zum Montage-Wunder „Rogger Rabbit“ (1987) auch Produkte aus anderen Ländern. An spannenden Ansätzen mangelte es in Europa nie. Grimaults poetischer Realismus in Frankreich zählt genauso dazu wie Batchelor/Halas solid-satirische „Animal Farm“ (1954) in England. Gegen die unerbittlich auf Familien-Mainstream gebürsteten US-Cartoons hatten sie jedoch nie eine Chance. Erst nachdem von den großen Studios nur noch Disney übriggeblieben war, ging es vor allem in Osteuropa und Italien aufwärts. Bozettos Fantasia-Hommage „Allegro non troppo“ (1976) ist hierfür ein Beispiel.

Japan ist unter anderem mit Katsuhiros wirrem Cyberspace- Monstrum „Akira“ (1989) vertreten – dem nichtsdestotrotz immer wieder Kultqualität zugesprochen wird. Dennoch: Die Welt der Träume, Farben und Töne, bei „Die Schöne und das Biest“ heißt rundumerneuert all das genießen, was Trickfilm ausmacht. Disney ist halt doch unschlagbar – auch wenn es nur seine Erben sind.

Spieltermine: siehe Programmteil