Der Rufmord geht dem Mord voraus

■ Pfingsten 93 - schwarze Woche

Pfingsten 93 – schwarze Woche

Am Mittwoch wurde das Grundrecht auf Asyl abgeschafft. Am Donnerstag wurde mit den sogenannten Karenztagen zur Finanzierung der Pflegeversicherung das Tarifrecht ausgehebelt bzw. mit dem sog. Solidarpakt das soziale Netz zurückgeschnitten. Am Freitag wurde der Paragraph 218 runderneuert. Am Samstag wurden fünf Türkinnen verbrannt.

Verantwortlich – in der oben angegebenen Reihenfolge – waren eine Große Koalition im Bundestag, die Regierungskoalition bzw. wieder eine Große Koalition sowie die Justiz und der Mob.

Objekte der schwarzen Maßnahmen waren in zwei Fällen Minderheiten (Flüchtlinge bzw. Ausländer) und in zwei Fällen Mehrheiten (Arbeitnehmer und Frauen). Gemeinsam war sämtlichen kalten Entscheidungen das Mißtrauen gegenüber den Zielgruppen beziehungsweise das Konstrukt derselben als Kriminelle: Asylsuchende als Betrüger und Schmarotzer, Arbeitnehmer als Krankfeierer und Schmarotzer, Frauen als Schmarotzerinnen und Mörderinnen.

Der Rufmord geht dem Mord voraus, sagte jemand bei der Kundgebung in Frankfurt. Johannes Winter, Rosbach

Es ist kaum ein Zufall, daß die Morde von Solingen in der gleichen Woche ausgeführt wurden, in der in Bonn das Asylrecht vergewaltigt wurde. Denn die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl ist in erster Linie ein Nachgeben gegenüber rechter Gewalt und gegenüber rechtsextremistischen Forderungen. Rechtsextremisten können sich zu recht darin bestätigt sehen, daß ihre rassistische Ideologie zum politischen Faktor geworden ist. Wen wundert es, daß sie sich zu neuen Taten ermuntert sehen, wenn sie gerade einen Erfolg ihrer Gewalt feiern können?

Rechtsradikale Gewalt hat gesellschaftliche Ursachen. So hat in unserer Leistungsgesellschaft in großem Umfang ein Abschied von solchen sozialen Idealen stattgefunden, aus denen kein unmittelbarer wirtschaftlicher Vorteil resultiert. „Kohle machen“ ist die wichtigste Motivation für 63 Prozent der Bevölkerung. Soziale Beziehungen werden in erster Linie daraufhin überprüft, ob sie Nutzen bringen oder Geld kosten. Gerade unter rechtsextremistischen Jugendlichen entdeckten Experten eine fast vollkommene Unterwerfung unter die kapitalistischen Leistungsnormen. Sie werten dieses Wirtschaftssystem als das überlegene System und persönliche Erfolge als anzustrebende Siege. Ihr Ideal ist die Durchsetzung gegen andere – oft mit allen verfügbaren Mitteln.

Natürlich sind rechtsextremistische Gewalttäter eine kleine Minderheit. Aber sie entfalten ihre verbrecherische Energie auf dem Boden einer Gesellschaft, in der dumpfe Ängste um den eigenen Besitzstand um sich greifen. In dieser Situation droht ein verstärkter Kampf aller gegen alle um scheinbar knappere Lebenschancen. Die Risse dieses Kampfes laufen quer durch die gesamte Gesellschaft: Junge gegen Alte, Frauen gegen Männer, Arbeitsplatzbesitzer gegen Arbeitslose, Arbeitnehmer gegen Umweltschützer, Einheimische gegen Zuwanderer.

Wenn Betroffenheitsadressen zum Solinger Verbrechen die heuchlerische Note genommen werden soll, dann müßte unsere politische Klasse über solche Zusammenhänge nachdenken. Darüber, wie mehr soziale Gerechtigkeit innerhalb unserer Gesellschaft und nach außen verwirklicht werden kann. Politiker müßten die Bevölkerung darüber aufklären, daß es strukturelle Zusammenhänge gibt, zwischen dem hier herrschenden Wohlstand und der Verelendung ganzer Weltregionen im Süden. Glaubhafte Politik müßte über ihre völlig verfehlte Ausländer- und Asylpolitik nachdenken. Es müßte endlich mit der bundesdeutschen Lebenslüge aufgehört werden, wir seien kein Einwanderungsland. Die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft gehört ganz oben auf die Tagesordnung. Und ebenso dringend bedarf es des Nachdenkens darüber, wie unsere Wirtschafts- und Lebensweise gestaltet werden müßte, damit sie zumindest mittel- und langfristig ihren gewaltfördernden Charakter verliert und ein solidarisches Miteinander möglich macht. Michael Schmid, Gammertingen

betr.: „Nach Solingen: Ausländer – wehrt euch!“, taz vom 1.6.93

Dreieinhalb Monate habe ich 1992/93 in Indien verbracht. Immer wieder hörte ich aus den indischen Nachrichten und aus Briefen von deutschen FreundInnen von den rassistischen Überfällen auf AusländerInnen. Es war mir ein Graus, in dieses kalte, menschenverachtende Deutschland zurückzukehren, denn in Indien hatte ich als Ausländer immer wieder herzliche Gastfreundschaft erfahren. Nach langen zögernden Überlegungen kaufte ich mir bald nach meiner Rückkehr Tränengas, um bei faschistischer Gewalt nicht tatenlos zuzusehen, sondern den Mut zu haben einzugreifen.

Solingen ist die schreckliche Bestätigung: Es ist Zeit für eine politisch motivierte Tränengasbewaffnung! Matthias Barkhausen, Bielefeld