Achteinhalb Präsente

Zum Einjährigen des deutsch-französischen Kulturkanals arte eingepackt  ■ Von Lothar Baier

1. Über arte, sagte mir vor zwei Jahren der Hotelier in Straßburg, braucht mir niemand etwas zu erzählen. Hier in diesem Haus wurden die Verträge unterzeichnet: Ich mußte nur aus dem Fenster schauen, um die wahren Machtverhältnisse in diesem Sender zu erkennen. Zuerst fuhren drei Mercedes-Limousinen aus Deutschland vor, gelenkt von Chauffeuren, und ließen die hohen Herren aussteigen. Dann kam ein kleiner Peugeot 205 aus Paris angefahren, mit dem Chef selbst am Steuer. Liberté, egalité, fraternité. Erzählen die Autos aber wirklich die ganze Wahrheit über arte?

2. Was Kohl und Mitterrand sich gedacht haben, als sie die Einrichtung eines deutsch-französischen Kulturkanals verabredeten, weiß ich natürlich nicht. Die Phrasen, die bei der Gelegenheit gedroschen wurden, verdecken möglicherweise jedoch die objektive Intelligenz der Initiative. arte erscheint mir heute vor allem als ansprechende Form praktischer Kritik an der fürchterlichen Kreativitätsideologie, die mit der Zulassung des kommerziellen Fernsehens in die Welt gesetzt wurde und die die Realität des Kommerzfernsehens täglich dementiert. Statt Vielfalt, kreativen Wettbewerb und ähnliche schöne Dinge hervorzubringen, produziert die Medienkonkurrenz bekanntlich einschläfernde Uniformität und zieht auch die verbliebenen öffentlichen Programme mit hinunter. Die Kommerzialisierung befördert zudem die nationale Abschottung: Eine Talkshow mit prominenter Besetzung, die in Deutschland die Einschaltquoten hochschnellen läßt, wäre nebenan in Frankreich absolut unverkäuflich – und umgekehrt. Am Ende der kommerziellen Logik steht die deprimierende rein nationale Nabelschau. In dieser Hinsicht ist arte als grenzüberschreitendes, nicht-kommerzielles Programm ein Lichtblick.

3. Ich jedenfalls freue mich ganz naiv, wenn die Tafel von arte auftaucht und das Nebeneinander von zwei Sprachen – „heute abend“ und „ce soir“, „Dienstag“ und „mardi“ – als tägliche Selbstverständlichkeit präsentiert. Dazu ab und zu ein interessanter Dokumentarfilm im Vorabendprogramm, während sich die anderen Sender an Stumpfsinn überbieten. Ich wünsche arte also ein langes transnationales Leben, auch wenn mir vieles an dem Programm nicht gefällt oder auch ganz und gar mißlungen erscheint. Wenn ich zum Beispiel die im Stakkato geschnittenen Abendnachrichten sehe, bei denen man die Welt noch ein bißchen besser mißverstehen lernt, packt mich unwiderstehliche Sehnsucht nach CNN.

4. Lassen Sie sich nicht von dem lockeren Ton und dem optischen Schnickschnack von arte täuschen, sagte mir kürzlich ein Mitarbeiter des Hauses. Im Innern pflegt man die Diktion hartgesottener Bürokraten, auf deutsch die Betonsprache. Da fühlt sich jemand wie ich, fuhr der Mann fort, der aus der DDR stammt, gleich wie zu Hause, berieselt von den Phrasen der SED. Schön für den Mann, daß ihm auf diese Weise die westliche Assimilation erleichtert wird.

5. Wenn ich es recht sehe, wird arte in Frankreich erst richtig wahrgenommen, seit das Programm nicht mehr wie zuvor das Programm von La Sept über Satellit, sondern terrestrisch ausgestrahlt wird. Dadurch hat arte aber auch eine schwere Hypothek auf sich geladen, weil sein Programm nun neben den großen öffentlichen und kommerziellen Programmen bestehen muß. Ironie der Geschichte: arte sendet auf der Frequenz des pleite gegangenen Senders La Cinq, der einmal Mitterrands zusammen mit Silvio Berlusconi aus der Taufe gehobenes massenmediales Lieblingskind gewesen war, gezeugt in der Phase neoliberaler Begeisterung über die Freiheitstugenden des Privatfernsehens. Manche Franzosen sähen es deshalb gern aus reiner Ranküne gegen Mitterrand, daß auch sein Kulturkind arte wiederum Schiffbruch erleidet. Gehört es aber nur ihm?

6. Wenn über die Gründe spekuliert wird, weshalb arte in Frankreich bedeutend höhere Einschaltquoten erreicht als in der Bundesrepublik, dürfen die unterschiedlichen Sehbedingungen nicht außer acht gelassen werden. In Frankreich ist arte die einzige Alternative, wenn die Leute von den kommerziellen und den mit ihnen leicht zu verwechselnden beiden öffentlichen Programmen die Nase voll haben; in der Bundesrepublik dagegen, wo sehr viel mehr Haushalte verkabelt sind, konkurriert arte mit einer ganzen Palette Dritter Programme, auf die sich die Zuschauerquoten verteilen. So etwas gibt es aber nicht im zentralisierten Frankreich.

7. Warum arte? Hätte der Sender nichts anderes zustande gebracht als den Themenabend, an dem die Filmregisseure Emir Kusturica und Harun Farocki den gefilmten Umsturz in Rumänien vor- und zurücklaufen ließen und dabei zeigten, was das Fernsehen mit seinen spezifischen Mitteln könnte, wenn es nur wollte, nämlich kritisches Hinschauen beibringen – dann hätte er seine Existenz für meinen Begriff schon gerechtfertigt.

8. Den dem Warschauer Ghettoaufstand gewidmeten Themenabend von arte habe ich dagegen mit einer Mischung aus gespannter Aufmerksamkeit und verärgerter Langeweile verfolgt. Sehr gute Filmbeiträge umrahmten das zweifelhafte 90-Minuten-Hauptstück des Abends, einen israelischen Propagandafilm, der alle Fragen, die in anderen Beiträgen behutsam aufgeworfen wurden, gnadenlos plattwalzte. Als Interviewer einiger ins Studio eingeladener Experten hatte man auch noch den falschen Mann engagiert, den Medienstar Alain Finkielkraut, dem es dann auch nicht um die Sache ging, sondern um sein derzeitiges Hobby, die Pflege des Ansehens der Republik Kroatien. Vielleicht hat man mit dem prominenten Namen ein paar Zuschauer mehr vor den Fernsehschirm locken wollen, doch das, was da prominent geboten wurde, war eher dazu angetan, realexistierende Zuschauer zu vergraulen. Wenn ein Minderheitenprogramm mit einem Auge nach der Mehrheit schielt, geht erst recht alles schief.

8 1/2. Die arte-Nachrichten können von mir aus so unbefriedigend bleiben, wie sie sind; auf sie bin ich als verkabelter Zuschauer auch nicht angewiesen. Aber eines wünsche ich mir für die hoffentlich andauernde Zukunft des deutsch- französischen Senders: Er möge den Ausbruch aus der mentalen Einsperrung in die beschränkten nationalen Angelegenheiten so zur Regel machen, gleichgültig, in welcher Sprache er sich ausdrückt, daß die von den anderen Massenmedien unterhaltene nationale Wichtigtuerei als Form atavistischer Verirrung nicht länger ertragen wird.

Lothar Baier lebt in Frankfurt. Im Verlag „Actes-Sud“ gibt er die Essayreihe „Positions“ heraus.