Das langsame Altern des Detektivs

■ Manuel V. Montalbáns Detektiv Carvalho ist „Verloren im Labyrinth“ der Zeit

Als kurz nach dem Tode Francos der Ex-Philosoph, Ex-Kommunist, Ex-Häftling und Ex-CIA- mann José „Pepe“ Carvalho in seine Heimatstadt Barcelona zurückkommt, um Detektiv zu werden, ist er Anfang Dreißig, fit, hart und ambitioniert. Er kommt gerade rechtzeitig, um das Gespinst politischer Einflußnahmen im postfrancistischen Machtvakuum durch einen multinationalen Konzern zu durchdringen, das zwei Managern, die nicht zynisch genug sind, ihr Leben kostet. Carvalho löst den Fall, findet aber niemanden, der für seine Aufklärung Verwendung hat. Sogar Carvalhos Klientin zieht beruhigendes Nichtwissen und eine großzügige Pension der Entlarvung der Mörder ihres Mannes vor.

Am Ende der Ermittlungen steht für den Detektiv die Befriedigung, die Verschwörung zu durchschauen, neben der Enttäuschung darüber, daß dies nichts an ihrem Ablauf ändert. Die Personifikation des Komplotts, der ehemalige Sozialrevolutionär Argemi, triumphiert und mit ihm das opportunistische Prinzip, das eine Generation linker Utopisten zu technokratischen Millionären und Spanien zum Wirtschaftswunderland Europas gemacht hat.

Der Privat-Detektiv wird seitdem immer wieder brisante Mordfälle von öffentlichem Interesse im politisch-ökonomischen Bereich lösen, aber mit seinen Kenntnissen niemals folgenreich die Kontaktnetze zwischen Bürokratie, Polizei, Wirtschaft und Parteien bis in die Öffentlichkeit hinein durchdringen. Es ist kein Wunder, daß Carvalho ein Zyniker ist, den nicht der Ehrgeiz des Revolutionärs, sondern der Wille zum Wissen anspornt. Ein Wissen, das in seinen Händen keine Macht entfaltet, wie der Detektiv wohl weiß — es ist nur seine Faszination, die Carvalho begehrt. Ähnlich mächtig treibt ihn sonst nur sein Hunger um.

Carvalhos eigenes Kontaktsystem ist denn auch nicht subversiv, wie seine Vergangenheit vermuten ließe, sondern funktional, orientiert an seinen wechselnden Bedürfnissen: Die Leidenschaft eines Gourmets und exzellenten Kochs teilt er mit seinem Freund Fuster, sein Bett und seine Sorgen mit der Prostituierten Charo, sein Büro mit seinem Sommelier und Faktotum Biscuter; seine Informationen bezieht er von seinem Schuhputzer Bromuro und von Oberst Parra, einem zum Manager promovierten Ex-Revolutionär. Diese Konstellation von Bedürfnissen und Beziehungen ist eingebettet in die Mischung aus Kriminalität, Kunst, katalanischer Küche und Touristen auf den Ramblas von Barcelona.

Montalbán hat in einem guten Dutzend Romane und Erzählungen die Geschichte dieses Kontaktnetzes und dieser Stadt geschrieben und dabei Kriminalfälle als Fokus und als Appetizer benutzt. Der Fall bündelt Personen und Konflikte stets neu und immer spannend. Aber während jede Untersuchung mit einer Lösung endet und daher neue Klienten Carvalho mit neuen Fällen betrauen, bleibt er selbst der alte. Und weil er der alte bleibt, während sich alles um ihn herum verändert und erneuert, altert er. Carvalho weiß dies und wünscht sich daher, „ohne meine Erinnerungen zu leben“. Der jüngste Fall des nunmehr über fünfzigjährigen Detektivs dient als – brillanter – Vorwand, die Geschichte des Alterns in einer sich verjüngenden Stadt zu erzählen. Carvalho ist „Verloren im Labyrinth“ der Zeit.

Zwei Fälle bearbeitet der Detektiv. Eine Französin sucht mit der Unterstützung eines Freundes ihren griechischen Geliebten Alekos, der sie wegen eines jungen Mannes verlassen hat. Der Vater befürchtet, seine unmündige Tochter Beba könnte in einen Drogenskandal geraten, der sich auch durch seinen Einfluß nicht mehr niederschlagen ließe. Es geht um Liebe und Sehnsucht, um Familie und Sorge, nicht länger um eine „ungeheuerliche Verschwörung“ der Mächtigen. Carvalho, der einst nur von mehreren Männern gestoppt werden konnte, löst beide Fälle verblüffend schnell, obwohl er nun nach ein paar Treppen eine Pause einlegen muß. Binnen zweier Tage findet er den aidskranken bisexuellen Alekos, beschattet nebenbei Beba und löst zwei Tage später das Geheimnis ihrer Kokainkäufe. Mit dieser Effizienz kann nur noch die Gleichgültigkeit konkurrieren, mit welcher der Detektiv seine Untersuchungen führt. Ein paar Anrufe bei „früheren Freunden“ genügen, um zu erfahren, wo man einen schönen, griechischen Mann findet. Das Kriminalistische der Fälle tritt in den Hintergrund. Sie fungieren eher als Ketten, auf denen Episoden wie Perlen aufgefädelt sind, Episoden, die vom Altern des Detektivs erzählen.

Die Geschichte spielt in einem durch Olympia und „Expo“ mutierten Barcelona, wo für Milliardensummen Grundstücke, Übertragungsrechte, Einfluß und Aufträge gehandelt werden. Es ist eine „Stadt der Vernichtung und des Wiederaufbaus“. Barcelona posa't quapa, mach dich hübsch, verkünden die Plakate der Bauherren. Die Menschen, die in diese Stadt gehören, sind jung, dynamisch, reich, der Rest wird entwurzelt. „Die Gesellschaft teilt sich demnach in Yuppies und Obdachlose.“

Inmitten des aufblühenden olympischen Barcelonas welkt Carvalhos familienartiges Kontaktnetz dahin. Biscuter ist ihm entfremdet, von der alternden Charo kommt ein Abschiedsbrief, Bromuro, der beste Informant der alten Stadt, ist tot. Was bleibt, sind seine exquisiten Kochkünste, die er noch immer weiter zu verfeinern trachtet. Nur als Gourmet ist Carvalho noch entwicklungsfähig. Nur noch das kulinarische Gespann mit Fuster funktioniert.

Nach einem wie immer zum Nachkochen geeigneten Menü fällt Carvalho in ein Koma, aus dem er ohne Kater erwacht, „weil wir nur gute Sachen getrunken und nur nutzloses Zeug geredet haben“. Dies ist fast so gut, wie das Erinnern zu vergessen. Aber dies mißlingt genauso wie seine Versuche, mit den Büchern seiner Bibliothek auch die an sie geknüpfte Vergangenheit zu verbrennen. Seine Erinnerungen werden also auch den „präolympischen Zusammenbruch“ seiner Stadt überstehen. Er sollte sich dann zu Ruhe setzen, um die besten davon in einem Kochbuch festzuhalten. Niels Werber

Manuel Vásquez Montalbán: „Verloren im Labyrinth“. rororo, Reinbek im Mai 1993, 155Seiten, 8,90 Mark