Höchstens mal die Ehefrauen

Weil in Rostock seit der Wende die Mißwirtschaft regiert, soll jetzt der Theateretat bis zur Spielunfähigkeit zusammengestrichen werden: Zum Saisonabschluß inszeniert die Hansestadt eine Provinzposse in mehreren Akten  ■ Von Klaudia Brunst

„Wir sind ja kopflos hier. So kopflos wie die Stadt.“ Inge Flimm, Schauspieldirektorin des Volkstheaters Rostock, kann den Irrsinn kaum noch glauben. Seit Monaten steht auf ihrem Spielplan ein Laienspiel, das zwar niemand sehen will, bei dem aber die halbe Stadt mit viel Verve und wenig Sachverstand mitspielt. Nur Berndt Renne sitzt mittlerweile in der Zuschauerloge, seine Rolle als Intendant der städtischen Bühne wurde gleich nach dem ersten Akt gestrichen.

Zweieinhalb Jahre hatte er das Rostocker Theater geleitet, und er hatte seine Sache nicht schlecht gemacht: Seit 1990 füllte der neue Hausherr die seit Anfang der achtziger Jahre meist leeren Plätze des Rostocker Stadttheaters. Auf stolze 55,2 Prozent Platzauslastung hatte er es im letzten Jahr gebracht, hatte die immensen Kosten des alten DDR-Spielbetriebs gedämpft, siebzig Stellen abgebaut und trotzdem sein Mehrspartenhaus mit einer ausgewogenen Mischung aus kurzweiligem Musical, beliebten Opern und junger Dramatik auf eine solide Grundlage gestellt. Ein Erfolgsmensch.

Dann aber unterlief Berndt Renne ein eklatanter Fehler: Im Februar dieses Jahres informierte er seine Angestellten mit einem Aushang am schwarzen Brett darüber, daß die Stadt Rostock pleite sei. So pleite, daß niemand mit Sicherheit sagen könne, ob die Gehälter im nächsten Monat pünktlich angewiesen werden würden. Hochverrat, befand Oberbürgermeister Kilimann (SPD), selbst mittlerweile durch windige Immobiliengeschäfte ins Gerede gekommen. Lange schon wollte er den Querulanten Renne loswerden, der im Poker um den schmalen Haushaltsetat 1993 lautstark und erfolgreich Ansprüche stellte. Nun war die Chance plötzlich da, den aufmüpfigen Buben zu vertreiben. Theatralisch markierte der Oberbürgermeister auf der Rostocker Bühne den Brüskierten, erklärte das Vertrauensverhältnis zwischen Intendanz und Senat für „gestört“ und setzte kurzerhand ein Kündigungsschreiben auf. Berndt Renne mußte die Bühne durch den Hinterausgang verlassen.

Nun hatte eine treusorgende Magd ihren ersten großen Auftritt: Kultursenatorin Ulrike Oschwald (FDP) übernahm interimsweise die unbesetzte Intendanz, suchte händeringend nach einem neuen Theaterleiter und fand ihn in einem guten Onkel aus dem goldenen Westen. Arnold Petersen hatte nach 17 Jahren seinen Posten als Generalintendant des Mannheimer Nationaltheaters zur Verfügung gestellt, weil er dem westdeutschen Theatersystem nichts mehr abgewinnen konnte. Fortan studierte der Pensionär Slawistik und Astrologie an der Universität. Für die Ost-Hanseaten wollte er noch einmal ins Geschäft zurückkommen.

Alles schien sich nun zum Guten zu wenden, Frau Oschwald präsentierte dem Senat überglücklich den neuen Impressario, denn Petersen hielt für möglich, was Berndt Renne nie hatte akzeptieren wollen: Mit 31 Millionen Mark und 392 Stellen wollte Petersen künftig in Rostock niveauvolles Theater machen. Die gute Ulrike sagte ihm die Summe zu, um dem Theater Planungssicherheit für die nächste Spielzeit zu gewährleisten, noch bevor der Haushalt 93 beschlossen war. „Ich habe da wohl auch Fehler gemacht“, muß sie rückblickend einräumen.

Denn als der Rostocker Senat am 18. Mai der Bürgerschaft seinen Haushaltsvorschlag darlegte, fehlten plötzlich 1,3 Millionen Mark im Theateretat. An konkrete Zusagen konnte sich nun niemand mehr erinnern: „Sagen Sie mir, wer mit Herrn Petersen einen solchen Vertrag geschlossen hat“, kommentiert den Wortbruch Finanzsenator Neßelmann, ebenfalls in die Immobilienaffäre verstrickt, die seinen OB den Kragen kosten könnte, „ich war es jedenfalls nicht.“ Und da das Land Mecklenburg-Vorpommern die städtischen Kultureinrichtungen paritätisch mitfinanziert, freute man sich auch in Schwerin, nun 1,3 Millionen nicht nach Rostock überweisen zu müssen. Mit 29 Millionen soll das Theater fürderhin auskommen. Zum Sterben zuviel, zum Theaterspielen zuwenig.

Wenn dieser Haushaltsentwurf am 16. Juni in zweiter Lesung beschlossen werden sollte, fehlt es im Theater nach den Ferien an allen Ecken und Enden: Ensemblegäste, die derzeit den regulären Spielbetrieb aufrechterhalten, können dann nicht mehr bezahlt werden, für das Drucken von Werbeplakaten und Spielplänen ist keine Mark mehr da. Neuinszenierungen gäbe es in Rostock gar nicht mehr. „Ich verstehe ja, daß hier niemand gelernt hat, mit öffentlichen Geldern sinnvoll umzugehen“, meint Inge Flimm, die aus Hamburg nach Rostock kam. „Die Wende ist gerade mal drei Jahre her, und die Bürgerschaft ist mit den neuen Wirtschaftsstrukturen völlig überfordert. Aber man kann doch die Landessubventionen nicht so einfach in den Wind schreiben!“ Für sie ist das alles der schiere Wahnsinn.

Für den Fall, daß dieser Wahnsinn endgültig beschlossen wird, stellt die gesamte Theaterleitung nun ihre Ämter zur Verfügung. „Sie mögen das für Erpressung halten, aber wir haben ja sonst keine Macht“, erklärt Ballettdirektor Tomasz Kajdansik diesen Schritt. „Wir haben keine Macht, wir haben nur Ausdauer. Es gilt, die Kontinuität des Theater zu erhalten. Wir sind auf das Theater verpflichtet wie die Priester auf ihre Religion. Wir dürfen doch nicht einfach aufgeben, nur weil es mal eine Krise gibt!“ Die Krise ist allerdings denkbar groß. „Hinter diesen Senatsbeschlüssen steckt nicht einmal ein politisches Kalkül“, vermutet Chefdramaturg Michael Baumgarten, „da regiert die blanke Naivität.“

Daß hinter dem Haushaltsplan schon lange kein Konzept mehr steht, muß auch Ulrike Oschwald zugeben. Da wurde ein kompetentes Leitungsteam erst vor kurzer Zeit eingestellt, um strukturelle Neuordnungen, wie die Umwandlung in eine senatseigene GmbH, zu erarbeiten, und nun geht gar nichts mehr. Das Vorhaben, aus Kostengründen einzelne Sparten zu schließen und im Musiktheaterbereich mit Schwerin zu kooperieren, scheiterte schon zu Rennes Zeiten. Die beiden Bühnen sind weder technisch noch künstlerisch vergleichbar. Bis aber eine neue Rechtsform kostensparend wirksam wird, würden Jahre vergehen. Zeit, die der Rostocker Fiskus nicht mehr hat.

Zu lange regierte in der Hansestadt die Mißwirtschaft, nun kann das Geld nicht mehr sinnvoll ausgegeben werden. „Wir haben hier insgesamt den Fehler gemacht, immer alles zu wollen“, erinnert sich Ulrike Oschwald. Notwendige Einschnitte sind drei Jahre lang immer wieder vertagt worden. Jetzt ist in Rostock Matthäi am letzten: „Wenn ich das Theater in seiner jetzigen Form erhalten will“, so die Perspektive der Kultursenatorin, „muß ich die Schulen schließen.“ Selbst die Jugendklubs stehen nun vor der Schließung.

In der demokratieunerfahrenen Bürgerschaft weiß niemand mehr, wo es langgehen soll. Als die Theaterleitung in den Fraktionen auf ihre Misere aufmerksam machte, haben viele Kommunalpolitiker erst begriffen, welche Konsequenzen die Etatkürzung haben wird: „Die Senatoren kriegen da ein dickes Zahlenwerk auf den Tisch. Die blicken doch durch die Stellenpläne und Kürzungsmaßnahmen gar nicht durch“, stellte Michael Baumgarten auf seiner Tour durchs Rostocker Rathaus fest.

Wie das Kaninchen auf die Schlange schaut die Bürgerschaft nur noch auf die roten Zahlen im Haushaltsbuch. Bei den letzten Beschlüssen wurde der Kulturausschuß kurzerhand übergangen, das Ruder in der Hansestadt hat schon längst die Verwaltung übernommen. Und die entscheidet nicht nach politischen Maßgaben, sondern bürokratisch: Der von der Stadtverwaltung vorgelegte Haushaltsentwurf ist ausgeglichen – „der einzige Charme, den das Ding hat“, wie Ulrike Oschwald zugeben muß. Der Haushaltsentwurf entspreche eben dem, was die Stadt sich leisten kann, erklärt Finanzsenator Neßelmann. „Wenn mir jemand sagt, wo ich das Geld hernehmen soll, lege ich beim Theater gerne nach“, gibt er sich freundlich, wohl wissend, daß den unerfahrenen Senatoren für solche Vorschläge die übergreifende Fachkompetenz fehlt.

Noch bevor sich Ulrike Oschwald für die Haushaltslesung, den vorerst letzten Akt dieser Provinzposse, rüsten konnte, mußte auch sie die Rostocker Bühne verlassen: Ohne vorherige Absprache hatte OB Kilimann am 2. Juni eine große Koalition mit der CDU ausgehandelt. Die verzichtete daraufhin gerne auf den anvisierten Königssturz, Kilimann und Neßelmann bleiben also weiter im Amt, Umweltsenator Kruezberg (Bündnis90) und Kultursenatorin Oschwald (FDP) müssen künftig auf der Oppositionsbank Platz nehmen. Bis zur 2. Lesung des Haushalts in zwei Wochen wird sich wohl kaum ein neuer Kultursenator profilieren können, der das Volkstheater vor der Etatkürzung bewahren kann.

„Von den Leuten, die jetzt über das Theater entscheiden“, kommentiert Arnold Petersen gelassen das Rostocker Ränkespiel, „sieht sich doch sowieso kaum jemand unsere Arbeit an.“ Da kämen höchstens mal die Ehefrauen. Theater mache man eben für eine Minderheit, aber der Staat subventioniere schließlich auch andere Minderheitsinteressen. „Wissen Sie, ich zum Beispiel bin wasserscheu“, erklärt er über den Rand seiner Lesebrille, „trotzdem finde ich es richtig, daß die Stadt ein Schwimmbad finanziert.“ Gutes Theater kostet eben Geld, „und wenn die Stadt jetzt nur noch 29 Millionen bewilligt, gibt sie eigentlich 29 Millionen zuviel aus“. Aber natürlich kann man auch mit dieser Summe einen Spielbetrieb aufrechterhalten. „Dann macht man hier eben künftig Theater wie in Stralsund, und im nächsten Jahr wie in Greifswald. Dann wie in Anklam und noch später wie in Parchim. Und im fünften Jahr ist es dann wie in Güstrow – und dann ist es eben aus.“