: Die grüne Schnellspur gibt's nicht
Bei der Entwicklung eines Öko-Sozialprodukts gibt es enorme methodische und theoretische Schwierigkeiten ■ Interview mit Christian Leipert
taz: Naturverbrauch und Umweltzerstörung werden von der gängigen volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ignoriert. Steigende Wachstumszahlen des Sozialprodukts gaukeln eine Erfolgsstory vor, die auf ökologischem Raubbau basiert. Sie versuchten in den Achtzigern als einer der ersten, „die heimlichen Kosten des Fortschritts“ transparent zu machen. Wie sind Sie vorgegangen?
Christian Leipert: Dazu habe ich Defensivkosten aufgedeckt, die im Sozialprodukt fälschlicherweise positiv enthalten sind. Das sind diejenigen Ausgaben der Gesellschaft, die den Wohlstand nicht erhöhen, sondern nur der Reparatur oder dem Ausgleich von Umweltschäden dienen: Aufbereitung von Trinkwasser, Behandlung von Smoggeschädigten, die Müllbeseitigung, Filteranlagen. Hier wird wiederhergestellt oder geschützt, was das Wachstum zerstört. Dieser Teil des Sozialprodukts enthält keine neugeschaffenen Werte. Die Defensivkosten lagen bereits in den achtziger Jahren deutlich über zehn Prozent. Aber sie sind nur ein Teil der gesamten Kosten der Umweltzerstörung. Sie erfassen zum Beispiel nicht die Verluste am Waldvermögen, die durch den sauren Regen ausgelöst werden.
Wie würden Sie in Ihren Defensivkosten die Gefährdung oder das Aussterben einer Rotbauchunke oder anderer Arten bewerten?
Da stellt sich natürlich die Frage, welches Bewertungskonzept das überhaupt vermag. Aus herkömmlicher ökonomischer Sicht liegt der Materialwert zum Beispiel eines Vogels bei 2,20 Mark. Das ist natürlich Unsinn. Das Konzept der Defensivkosten gibt hier keine Antwort, weil es wie eine Sonde über die Gesellschaft streicht und Ausgabenströme ortet. Diese Ausgabenströme müssen tatsächlich fließen. In Ihrem Unken-Beispiel geht es aber darum, daß durch unseren Wirtschaftsstil Arten aussterben, das ist ein realer Verlust. Und hier versagt das herkömmliche Sozialprodukt-Konzept, da es ausschließlich Ausgaben erfaßt. Das Aussterben der Rotbauchunke bedeutet aber tatsächlich einen ökologischen und ethisch-ästhetischen Wertverlust. Der müßte in einer den heutigen Krisenbedingungen angepaßten ökonomischen Gesamtrechnung berücksichtigt werden.
Jüngste Schätzungen über die jährlichen Kosten der ökologischen Zerstörung allein in Deutschland schwanken zwischen 200 und 600 Milliarden Mark oder noch mehr. Wie würden Sie die berechnen?
Wenn überhaupt, so halte ich den Weg einer indirekten Berechnung für den einzig sauberen. Es erscheint mir sinnvoll zu ermitteln: Was hätte es gekostet, die eingetretenen Umweltzerstörungen zu vermeiden? Und zwar gemessen an einem Level, der politisch festgelegt wird und sich am Prinzip des naturverträglichen Wirtschaftens orientiert. Damit hätten wir zumindest einen Anhaltspunkt, inwieweit wir ökonomisch über unsere Verhältnisse gelebt haben.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Zuerst könnte man Grenzwerte für Schwefeldioxyd und Stickoxyd festlegen, die ökologisch tragfähig sind, also auf lange Sicht nicht unsere Lebensgrundlagen beeinträchtigen. Dann würde ich errechnen, was der Einsatz entsprechender Filter- und Vermeidungstechnologien kostet, um diese Grenzwerte einzuhalten: Entschwefelungsanlagen, Kraft-Wärme-Koppelung oder Windräder. Da kommen Sie schnell auf Umbaukonzepte, auf Strukturwandel.
Und wenn das immer noch nicht ausreicht?
Dann wäre zu berechnen, um wieviel der Industrieoutput sinken muß, damit der nachhaltige Standard erreicht wird. Nehmen wir mal an, die Vermeidungskosten beliefen sich insgesamt auf rund 20 Prozent des Sozialprodukts. Dann wüßten alle: Um diese 20 Prozent hätten wir unseren Güterkonsum zurückschrauben müssen, um nicht auf Kosten des Naturvermögens zu leben. Dort allerdings, wo schon irreversible Schäden eingetreten sind, bleibt diese Rechnung leider rein rhetorisch.
Es gibt Behauptungen – zumindest für den Westen Deutschlands–, daß die ökologischen Kosten durch die inzwischen greifende Umweltschutzpolitik sinken, etwa durch die in den achtziger Jahren installierten Filteranlagen in Kohlekraftwerken.
Da würde ich vorsichtig sein. Wenn man bedenkt, daß sämtliche Zahlen, die in den letzten sechs Jahren zum Thema vorgelegt wurden, jeweils höher waren als im Jahr zuvor, dann ist der Trend eindeutig: Die Degradierung der Natur hat zugenommen, die Umweltrisiken steigen weiter. Natürlich gibt es partielle Erfolge, die von der Politik verständlicherweise hervorgehoben werden. Im Bereich der Energiewirtschaft etwa die Entschwefelung, die Entstickung, die Minderung der Schwebstäube.
Doch auch das Herstellen von Filteranlagen verschlingt Energie, Rohstoffe, Wasser.
Stimmt. Solche End-of-pipe- Technologien sind ja gar nicht das, was wir langfristig wollen. Das sind klassische Defensivtechnologien, deren Herstellung und Betrieb auch wieder Umweltschäden verursachen, die wiederum durch defensive Ausgaben behoben werden müssen. Aber zurück zum Trend: Wir hatten in den letzten Jahren einen steigenden Benzinverbrauch, der Stickoxydausstoß hat zugenommen. Gesamtwirtschaftlich betrachtet relativieren sich die frohen Botschaften. Neue Probleme, die in die ersten Berechnungen noch nicht eingingen, sind hinzugekommen: Treibhauseffekt und Ozonloch, die Chemisierung, die schleichende Vergiftung der Umwelt. Es gibt da einen Schatten, den wir noch gar nicht bewerten können.
In der Politik wird Zukunftsforschung dieser Art blockiert. Für das Forschungsprogramm „Biotechnologie 2000“ hingegen macht der Bund 1,5 Milliarden Mark locker. Das Projekt „Öko- Sozialprodukt“ wäre mit einem solchen Budget doch längst Realität.
Mit mehr Mitteln wären wir ohne Frage weiter. Diejenigen, die gar keine genauen Zahlen über die ökologischen Kosten des Wachstums wollen – wie die „Wachstümler“ in den einflußreichen Interessenverbänden und der Regierung –, bauschen die methodischen Schwierigkeiten auf. Oft mit dem Argument, es bestehe noch erheblicher Forschungsbedarf, ohne dann aber die Finanzierung sicherzustellen. Auch die Bundesregierung zeigt kein ernstzunehmendes Interesse, die sozialökologischen Folgen des Wirtschaftens in einer echten ökonomisch-ökologischen Wachstumsziffer auszudrücken.
Wie viele Wissenschaftler arbeiten denn gegenwärtig in Deutschland an einer ökologisch korrigierten Produktions- und Einkommensgröße?
Höchstens zehn. Und auch die sind in ihren Ämtern und Instituten durch Streichungen gefährdet, weil es in diesem Bereich noch keine wirklichen Besitzstände wie in der Wirtschafts- oder Agrarstatistik gibt. Die Umweltstatistik und die umweltökonomische Gesamtrechnung, deren Ausbau notwendig wäre, sind vom Rotstift bedroht.
Miese Aussichten. Wie also kommt man jetzt auf der grünen Schnellspur zum längst überfälligen Öko-Sozialprodukt-Konzept?
Die grüne Schnellspur gibt es nicht. Denn abgesehen davon, daß es manifeste politische Widerstände gegen einen ökologischen Kostenspiegel der herrschenden Wachstumseuphorie gibt, müssen wir bei der Entwicklung eines Öko-Sozialproduktes enorme theoretische und methodische Schwierigkeiten bewältigen. Dabei handelt es sich um ein Langzeitprojekt. Aber gerade deshalb muß sofort damit begonnen werden. Was die Methode anbelangt, scheint es mir relativ rasch möglich zu sein, über die ökologischen Defensivkosten einen geeigneten Erfassungsrahmen zu schaffen.
Was halten Sie davon, durch Initiative von unten Druck auf die Politik auszuüben? Wenn beispielsweise Umweltverbände über eine Stiftung Gelder für eine Arbeitsgruppe zum Öko-Sozialprodukt bereitstellen?
Ich finde das eine gute Idee.
Könnten Sie sich auch eine Mitarbeit an einer solchen Arbeitsgruppe vorstellen?
Ja. Denn diese Arbeit halte ich für unverzichtbar, um zu einer neuen ökologischen Wirtschaftspolitik zu gelangen. Interview: Thomas Worm
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